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Anamorphosen / Distortionen |
EinleitungAls Distortion / Anamorphose bezeichnen wir die (T)ransformationstechnik, um Bilder zu erzeugen, die der normalerweise erwarteten natürlichen Form widersprechen, sie als verzerrt wiedergeben. Eine Technik besteht darin, den Maßstab bei der mimetischen Darstellung von (O)bjekten in der einen Dimension anders zu handhaben als in der (den) anderen. Die Verzerrung kann den Raum betreffen oder die Zeit (Zeitraffer oder Zeitlupe, im Printmedium nicht möglich). Distortionen, d.h gegen die normalerweise erwartete natürliche Form erscheinende Gebilde, können auch verwendet werden, um in Bildform umgesetzte (O) statistische Daten eindrücklich zu gestalten. Solche maßstäbliche Verzerrungen sind zum Teil wegen der Eigenschaften der Objekte unentbehrlich, zum Teil dienen (F) sie der Profilierung des Darzustellenden. Zu den Wörtern: Distortion von distortus, Partizip der Vergangenheit von distorquēre ›verdrehen, verzerren‹ — griech. anamórphōsis ›die Umformung‹, von morphḗ ›die Gestalt, Form‹. |
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›Überhöhung‹••• Weil die Meerestiefen um ca. 1000 mal kleiner sind als das Meer breit ist, kann nur mittels Überhöhung ein Eindruck vom Profil des Meeresbodens visualisiert werden. Die Breite des Meers wird im Verhältnis zur Tiefe stark geschrumpft.
••• Die wirkliche Erdgestalt ist infolge der Beschaffenheit der Erde unregelmäßig. (Gemeint sind nicht die Gebirge; auch der Meeresspiegel ist nicht überall gleich hoch, was durch die geologische Beschaffenheit verursacht ist.) Die größte Mulde … befindet sich in der Gegend des Indischen Ozeans (ca. 120 m tiefer als die mittlere Geoidfläche), im Nordatlantik befindet sich ein 65 m hoher Buckel. [Anm.] — Johann Benedict Listing prägte dafür den Begriff »Geoid«. (Über unsere jetzige Kenntniss der Gestalt und Größe der Erde, Göttingen 1872.)
Für eine Visualisierung wird der Radius der Erde an jeder Stelle der Oberfläche extrem verändert.
••• Ein analoger Fall liegt vor, wenn die kaum wahrnehmbare, aber den ästhetischen Eindruck prägende leichte Wölbung der Gebäudekante (sog. Kurvatur) eines antiken Tempels übertrieben gezeichnet wird. (Die Abweichung von der – gestrichelt gezeichneten – Geraden beträgt in Wirklichkeit nur 10 cm; der Parthenon-Tempel z.B. misst 30 m in der Länge.)
••• Es ist unmöglich, sowohl die relativen Größen von Sonne und Planeten als auch die Abstände der Planetenbahnen um die Sonne darzustellen. (Jedem, der einmal einen Planetenweg erwandert hat, leuchtet das ein.)
••• Die Krümmung der Erdoberfläche kann man kundtun, wenn man z.B über einen größeren See das gegenüberliegende Ufer anschaut und feststellt, dass man am Ufer unten stehend untere Teile von Bauten dort drüben nicht sehen kann, während man sie von einem Turm aus sieht. Um das Experiment augenfällig zu visualisieren, muss man die Erdkugel im Verhältnis zum Beobachter und Beobachteten stark verkleinern:
••• Um zu zeigen, wie die Insekten aussehen, die auf bestimmte Gefiederpartien des Wirtvogels (ein Ibis) spezialisiert sind, werden sie an Ort und Stelle vergrößert dargestellt. Im Verhältnis zum Vogel erscheinen sie in falscher Größe.
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Vergleichbarkeit••• Damit die Längen mehrerer Flüsse vergleichbar werden, streckt man sie in die Länge. Nur noch kleine Krümmungen deuten an, dass es sich um Flüsse handelt:
••• In dieser Darstellung werden die Bilder von jugendlichen Menschen maßstäblich verkleinert, damit der Vergleich der Proportionen beim allometrischen Wachstum geleistet werden kann. (Die Hilfslinien sind beim Neugeborenen an markanten Stellen wie Augenbrauen, Kinn, Leistengegend angesetzt und ziehen sich durch.) Die einzelnen Menschen sind an sich nicht verzerrt; das parallele Nebeneinander wirkt wie ein Konglomerat.
••• Über die Beschaffenheit der Weichteile erhält man Auskunft durch die Form der Knochen, was für die Rekontruktion der Gestalt von Fossilien wichtig ist:
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Umsetzungen statistischer Daten in verzerrt erscheinende Gestalten••• In der Statistik gibt es seit Erwin Raisz (1893–1968) die Technik, geographische Gebiete entsprechend den statistischen Daten ausgedehnt oder verkleinert darzustellen: sog. anamorphotische Karten. Die Darstellung ist nur verständlich, wenn man die wirklichen Größen der Gebiete auf der Landkarte kennt und sie mit den hier gezeigten vergleichen kann.
••• Der »Sensory Homunculus« funktioniert visualisierungstechnisch gleich: Der Neurochirurg Wilder G. Penfield (1891–1976) setzte gewisse corticale Regionen im Gehirn in Relation zu den sensorischen / motorischen Fähigkeiten der davon innervierten Körperteile. Je größer die an der Wahrnehmung des Körpers bzw. an der Muskelsteuerung beteiligte Hirnregion ist, um so größer wird der jeweilige Körperteil abgebildet. So entsteht das Bild eines verzerrten Körpers. (Hier ein vereinfachtes Bild):
Eine beliebte Visualisierung von statistischen Daten ist die Umsetzung von Balkendiagrammen in mimetische Figuren. Hier: Die relative Zahl von eine bestimmte Sprache sprechenden Menschen ist umgesetzt in eine in der Nationaltracht bekleidete Figur; die Figurengröße entspricht der Anzahl der so Sprechenden. So erscheint ›der Chinese‹ wie ein überdimensionierter Riese neben ›dem Franzosen‹:
Mehr dazu im Kapitel über Tabellen. |
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Jede Landkarte verzerrt zwingendGebiete im hohen Norden oder Süden sind auf einer winkelgetreuen Projektion, wenn der Äquator in der Mitte des Bilds liegt, viel zu groß dargestellt – aber eben winkelgetreu. In einer flächengetreuen Projektion stimmen aber die Winkel nicht. Beim zweidimensionalen Modell der in Realität kugelförmigen Erdoberfläche kann man nicht beides haben. — Mehr dazu auf der Seite Geographie.
Eine sehr instruktive Präsentation zum Thema (v.a. die Vorspiegelung falscher Flächengrößen bei der Mercator-Projektion) von Oliver Wietlisbach findet man auf der Plattform watson {Zugriff 8.8.18}. |
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Zeitliche VerzerrungBeispiel für Zeitlupe: Bei der Analyse des Insektenfluges oder bei der Photographie ballistischer Vorgänge sind bei der Film-Aufnahme hohe Bild-Frequenzen erforderlich. Bei diesen hohen Frequenzen verlegt man diese in die Lichtquelle selbst, als welche meist der Lichtfunke einer Hochfrequenzfunkenstrecke dient. Ein solcher Apparat sieht schematisch so aus. Bei E ist die Funkenstrecke, zwischen der Doppellinse C und der Optik O ist das Insekt sichtbar.
Beispiel für Zeitraffer: Libration des Erdmondes. Obwohl uns der Mond immer die gleiche Seite zuwendet, sehen wir im Laufe von 28 Tagen nicht immer exakt dieselbe Seite des Mondes, denn er taumelt leicht (dazu kommen weitere Effekte). Das bemerkt man erst, wenn der Mond im Zeitraffer gefilmt wird, vgl. das Video auf > https://de.wikipedia.org/wiki/Libration |
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Zum Schluss zur Erheiterung: Karikaturen …Karikaturen überzeichnen die Physiognomien technisch gleich wie die Überhöhungen (vgl. ital. caricatura ›Übertreibung‹) , aber mit anderem Zweck.
Literaturhinweis: Eduard Fuchs, Die Karikatur der europäischen Völker. 1: Vom Altertum bis zur Neuzeit – 2: Vom Jahre 1848 bis zur Gegenwart, Berlin: Hofmann 1901/03. |
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… und AnamorphosenIm 16. und 17. Jahrhundert hat man sich mit katoptrischen Experimenten amüsiert. Hier wird gezeigt, wie ein konischer Spiegel und ein elliptisch eingebogener Spiegel ein Angesicht verstellet.
Erhard Schön (um 1491 bis 1542) hat Bilder gezeichnet, die nur in extremer Schrägansicht das Abgebildete zeigen; vgl. http://www.zeno.org/nid/20004287525 |
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Entwurf im August 2017; ergänzt im August 2024. PM |
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