Graphische Realisation

     
 


Vom Bild im Kopf zum Bild auf dem Papier

Schließlich müssen die mimetischen Vorbilder bzw. die Bildideen, sofern das Bild nicht durch eine Maschine erzeugt wird, durch Graphiker/Innen realisiert werden, d.h. gezeichnet, gedruckt.

Das ist nicht so trivial, wie sich das der moderne Betrachter vorstellen mag: abknipsen und dann auf dem Bildschirm angucken. — Zu beachten sind mehrere miteinander verquickte Gesichtspunkte:

die technische Dimension: Druckverfahren (und ihre Implikationen); Tricks; …

die didaktische Dimension: Mittel zur Blickführung (Stilisierung; Farbigkeit u.a.)

die Dimension der Korrespondenz mit der Realität: Raum in Fläche umsetzen; Angabe des Maßstabs; …

die ästhetische Dimension;

die historische Dimension.

Bei gewissen Bildideen (z.B. bei Rahmungen) ist nicht ganz klar, was sie leisten.

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Präzision der Darstellung

Dass ein Bild ›naturgetreu‹ sein soll, ist ein Thema seit jeher. (Bei diagrammatischen Bildern ergeben sich andere Probleme.)

Kupfer von Matthäus Merian d. Ä. (1593–1650) in: Joh. Ludov. Gottfridi Historische Chronica, Oder Beschreibung der Fürnemsten Geschichten/ so sich von Anfang der Welt/ biß auff das Jahr Christi 1619. zugetragen … [Frankfurt am Main]: Merian 1657, S. 186.
> http://digital.ub.uni-duesseldorf.de/content/pageview/1306766
> http://haab-digital.klassik-stiftung.de/viewer/image/1605931918/265/

Parrhasios soll sich mit Zeuxis in einen Wettstreit eingelassen haben; dieser habe gemalte Trauben so erfolgreich dargeboten, dass die Vögel zum Schauplatz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so naturgetreu gemalten leinenen Vorhang [auf einem Bild] angebracht, dass der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können.

Plinius, naturalis historia XXXV, xxxvi, 65: traditur et, cum ille [Parrhasios] detulisset uvas pictas tanto successu, ut in scaenam aves advolarent, ipse detulisse linteum pictum ita veritate repraesentata, ut Zeuxis alitum iudicio tumens flagitaret tandem remoto linteo ostendi picturam atque intellecto errore concederet palmam ingenuo pudore, quoniam ipse volucres fefellisset, Parrhasius autem se artificem.

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Zeichner an der Arbeit

Selten einmal stellen sich die Zeichner selbst bei der Arbeit dar.

Adam Olearii Außführliche Beschreibung Der Kundbaren Reyse Nach Muscow und Persien/ So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft von Gottorff auß an Michael Fedorowitz den grossen Zaar in Muscow/ und Schach Sefi König in Persien geschehen. Worinnen die gelegenheit derer Orter und Länder/ durch welche die Reyse gangen/ als Liffland/ Rußland/ Tartarien/ Meden und Persien/ sampt dero Einwohner Natur/ Leben/ Sitten [...] zu befinden. Jetzo zum dritten und letzten mahl correct heraus gegeben, Schleßwig: Holwein 1663. Ausschnitt der Kupfertafel zum 5.Buch, 10.Kapitel: In der Stadt Derbent am Kaspischen Meer im (damaligen) Persien bei der Besichtigung von Leichensteinen eines Friedhofs (Ganzes Bild > http://diglib.hab.de/purl.php?dir=drucke/xb-4f-140&image=00841)

Enyclopédie, Planches, Septieme Volume (1769), s.v. Marine, Pl. VIII: Chantier de Construction (Ausschnitt; Hervorhebung durch PM)

Samuel Wyttenbach [1748-1830], Alpes Helveticae. Beschreibung einer Reise, die im Jahr 1776 durch einen Theil der Bernischen Alpen gemacht worden, Bern: Wagner 1777. (Ausschnitt) > http://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/3292328

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Druckverfahren

Umsetzung der (gezeichneten) Vorlage in das Reproduktionsmedium

Es ist ein Glücksfall, dass die Vorzeichnung zu einem Druck überliefert ist. Man ermisst, was der Formschneider bzw. Kupferstecher (oft dieselbe Person wie der Zeichner) noch an Präzisierungen dazu gegeben hat:

    

Links: Vorlage (Katalog des Antiquariats A.Laube in Zürich, März 2015)
Rechts: Druck des Titelbilds zu: Mercurius Helveticus: fürstellend die denk- und schauwürdigsten Anmerkungen und Seltsamkeiten der Eydgnoszschaft / durch Joh. Jacob Wagner, Zürich: Lindinner 1688.

Interessante Beispiele: Die Graphische Sammlung der Zentralbibliothek Zürich besitzt eine große Zahl der Vorzeichnungen von Johann Melchior Füssli (1677–1736) zu den Tafeln der Kupferbibel von Johann Jacob Scheuchzer (im Bibliotheks-Katalog der ZB suchen unter "Melchior Füssli Physica"; auf das Bild klicken und dann auf " e-manuscripta" gehen.).

Drucktechniken im Überblick

  • Autotypie
  • Hochdruck: Holzschnitt, Holzstich (Thomas Bewick † 1828)
  • Tiefdruck: Radierung, Kupferstich (engl. ›etching, intaglio‹), Aquatinta; Schabkunst (siehe weiter unten)
  • Flachdruck: Lithographie (engl. ›planographic printing‹; Senefelder ab 1818)

Holzschnitte und Holzstiche und Autotypie-Clichées erlauben die Einbindung in den (ebenfalls mit Lettern als Hochdruck realisierten) Text.

Beim Tiefdruck und bei der Lithographie aber ist das nicht möglich; es braucht zwei Druckvorgänge auf dem selben Blatt, oder dann werden die Bilder dem Buch als separate Tafeln beigegeben.

Mehrfarbige Bilder gab es bis zur Erfindung der Chromolithographie weitgehend nur als handkolorierte Drucke; erst durch die Einführung der Steindruck-Schnellpresse um ca. 1870 konnten farbige Bilder kostengünstig gedruckt werden.

Artikel Druckverfahren in: Der Große Brockhaus, 15. Auflage, Band 5 (1930), S. 125.

Hochdruckverfahren

In Holz geschnittener Druckstock und davon abgezogenes Bild, aus: Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich 1945–1948; Band IV, Tafel Holzschnitt I

Hier zeigt das MetMuseum, wie Holzschnitte gemacht werden.

Bei den Tiefdruckverfahren ist zu unterscheiden, wie die Vertiefungen in der Kupferplatte angebracht werden:

  • durch Ätzen (Radierung, engl. etching; frz. eau-forte)
  • durch Flächenätzung (Aquatinta)
  • durch Stechen mit einer Nadel (Kupferstich im engeren Sinn; engl. engraving; frz. taille douce)
  • durch Schaben einer aufgerauhten Platte (Mezzotinto).

Insofern als Abraham Bosse 1765 im Titel seines Buches schreibt: »Die Kunst in Kupfer zu stechen, sowohl vermittelst des Aetzwaßers als mit dem Grabstichel«, darf man das Wort "Kupferstich" im generellen Sinn verwenden.

Hier rechts das Gravieren mit einem Grabstichel; links das Aufrauhen einer Platte mittels eines Wiegestahls (Mettotinto, Schabkunst).

Bericht wie die Schwartze Kunst in Kupffer zu machen ist, aus: Vollständige Hauß- und Land-Bibliothec/ Worinnen Der Grund unverfälschter Wissenschafft zu finden ist/ deren sich bey jetziger Zeit ein Hof- Handels- Hauß- Burgers- und Land-Mann zu seinem reichlichen Nutzen bedienen kan. […] mit vielen nöthigen Kupffern zum offentlichen Druck verfertiget/ durch Andream Glorez von Mährn, Regenspurg zu Statt am Hof: Heyl 1699/1700.

Encyclopédie, Planches, Quatrieme Livraison (1767), s.v. Gravure, Pl. III: Gravure en Taille-douce

Auf dem Bild »Der Kupferstecher« (!) von Christoph Weigel (1654–1725) erkennt man gut, wie eine Radierung hergestellt wird: Der Mann rechts kratzt im Licht einer Mattscheibe die Zeichnung mit einer Nadel in eine (mit Asphalt / Harz / Wachs) beschichtete Platte; der Mann links hat eine Platte in einem flachen Becken geätzt und schüttet die Ätzflüssigkeit zurück in ein Fass.

Abbildung Der Gemein-Nützlichen Haupt-Stände Von denen Regenten Und ihren So in Friedens- als Kriegs-Zeiten zugeordneten Bedienten an/ biß auf alle Künstler Und Handwercker/ Nach Jedes Ambts- und Beruffs-Verrichtungen/ meist nach dem Leben gezeichnet und in Kupfer gebracht/ auch nach Dero Ursprung/ Nutzbar- und Denkwürdigkeiten/ kurtz/ doch gründlich beschrieben/ und ganz neu an den Tag geleget von Christoff Weigel / in Regenspurg 1698.

Literaturhinweise:

Abraham Bosse (gest. 1676), De la manière de graver à l’eaux-forte et au burin, Paris, 1645.

Abraham Bosse, Kunstbüchlein handelt Von der Radier- und Etzkunst/ Wie man nemlich mit Scheidwasser in Kupffer etzen/ das Scheid- oder Etzwasser/ wie auch den harten und weichen Etzgrund machen solle/ beneben Kurtzer Beschreibung/ wie man die Kupffer-Platten abdrucken/ die Truckerpresse machen/ … solle. [dt.Übersetzung durch G.-A. Böckler], Nürnberg: Fürst 1652.
> http://diglib.hab.de/drucke/xb-87/start.htm

ders., Radier-Büchlein, Nürnberg 1689
> http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/13722/1/

ders., Die Kunst, in Kupfer zu stechen, Nürnberg 1765.

Traité historique et pratique de la gravure en bois, par Jean-Michel Papillon [1698–1776], graveur en bois. Ouvrage enrichi des plus jolis morceaux de sa composition et de sa gravure, Paris: Pierre Guillaume 1766 (2 vols.)

J.S. Wilson, Autotypie. De natuur zich zelve afbeeldende. Handleiding tot het maken van zelfdrukken. Benevens eene reeks van autotypen. Meppel, J.S. Wilson 1857.

Tilman Falk, Artikel »Formschneider, Formschnitt«, in: Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte, Bd. X (2004), Sp. 190–224. > http://www.rdklabor.de/w/?oldid=89293

Heijo Klein, Sachwörterbuch der Drucktechnik und grafischen Kunst, Köln 1975 (dumont kunst-taschenbücher 15).

Aleš Krejča, Die Techniken der graphischen Kunst, Artia-Verlag, Prag 1980.

Karin Althaus, Druckgrafik. Handbuch der künstlerischen Drucktechniken, Zürich: Scheidegger & Spiess 2008.

Homepage von Wolfgang Autenrieth > http://wp.radiertechniken.de/

Homepage von Martin Riat & Maribel Serra > http://www.riat-serra.org/graph.html#tga-inhalt

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Layout mit-bedingt durch Drucktechnik

Wenn der Druckstock für den Holzschnitt so dick ist wie die beweglichen Typen, so lässt sich das Bild bequem in die mit Buchstaben gesetzte Seite einbinden und in einem einzigen Arbeitsgang drucken, weil beides Hochdruckverfahren sind. – Im 19. Jh. ist das mit der Einbindung der Clichées aus Metall in den Text wieder so.

Möchte man eine Kupferplatte (Tiefdruckverfahren; meist Radierung, engl. ›etching‹, frz. ›eau-forte‹) in den Text (Typensatz = Hochdruckverfahren) auf derselben Seite einbinden, so erfordert dies zwei Druckdurchgänge, und man muss dafür sorgen, dass das Bild genau dort hinkommt, wo der Bleisatz den Platz dafür offenhält. — Meist wird dann dieses Layout gewählt: Bild(er) auf einer eigenen Seite (gelegentlich auch ausklappbar, wenn übergroß) oder alle Bilder hinten im Buch. — Eine weitere Möglichkeit ist es, den Text in die Kupferplatte zu gravieren.

Genau gleich funktioniert die Lithographie (Flachdruckverfahren, das sich ebenfalls nicht in den stehenden Letternsatz einbinden lässt.)

••• Zwei Beispiele für Layout, wo Holzschnitte in den Text eingebunden sind. (Diese lassen sich auch leicht colorieren, dazu mehr unten).

[Jacob Ruoff † 1588] HebammenBuch/ Daraus man alle Heimligkeit deß weiblichen Geschlechts erlehrnen/ welcherley Gestalt der Mensch in Mutter Leib empfangen/ zunimpt vnd geboren wirdt […] Alles auß eygentlicher Erfahrung daß weitberühmpten Jacob Růffen/ Stattartzs zu Zürych/ an Tag geben. Franckfort an Mayn 1563. > https://archive.org/stream/hebammenbuchdara00rffj#page/n3/mode/2up

[Adam Lonitzer, 1528–1586], Kreuterbuch, Kunstliche Conterfeyunge der Bäume/ Studen/ Hecken/ Getreyde/ Gewürtze. […] Durch Adamum Lonierum […] Zu Franckfort/ bey Christian Egenolffs seligen Erben 1578. > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00086989/image_175

••• Beispiel für die Gegenüberstellung von Letternsatz und Lithographie. Die Einzelbilder können nicht in den Fließtext integriert werden; sie sind alle auf einer Tafel vereinigt und mit Ziffern auf die Legende bezogen.

Systematische Bilder-Gallerie zur allgemeinen deutschen Real-Encyclopädie. Conversations-Lexicon in lithographirten Blättern, Carlsruhe und Freiburg in der Herder'schen Kunst und Buchhandlung, Dritte Auflage 1828. Vierte Abtheilung. Mythologie und Culltus, Tafel N° 4: Lamaische Götzen — In der Legende:

1. Ein Mythisches Kameel.
2. Der Elephant des Chursmusta.
3 bis 8. Altmongolische Bildnisse.
9. Götzen der Indier in Astrachen.
10 bis 17. Lamaische Götzenbilder.
18. Chinesischer Götze der Unsterblichkeit.
19. Totuk oder Ninifo.
20. Tsching-hoang.
21. Lincing.

Die großen Enzyklopädien sind so angelegt (mit Kupfertafeln): Ephraim Chambers, »Cyclopaedia« — die Tafelbände (Planches) der »Encyclopédie« — Krünitz, »Oeconomische Enzyklopädie« u.a.m..

••• Beispiel für das Übereinanderlegen von Letternsatz und Kupfer:

[Michael Bernhard Valentini], Museum Museorum, oder Vollständige Schau-Bühne aller Materialien und Specereyen / nebst deren natürlichen Beschreibung, Election, Nutzen und Gebrauch / Aus andern Material-, Kunst und Naturalien-Kammern, Oost- und West-Indischen Reiß-Beschreibungen / Curiosen Zeit- und Tag-Registern / Natur- und Artzney-Kündigern / wie auch selbst-eigenen Erfahrung […] Frankfurt a.M.: Zunner, zweyte Edition 1714. — Angebunden: Unvorgreiffliches Bedencken von Kunst- und Naturalien-Kammern insgemein, S. 24. Die Pflanze Brasilianisch Kavitz

Hier ist die Kupfertafel nicht genau passend zum Letternsatz eingefügt, vgl. die Überlappung des Blatts beim Text oben rechts nach Anleitung der unläugbaren Sinnen. Das ist nicht in allen Exemplaren, so: vgl. https://www.biodiversitylibrary.org/item/30610#page/592/mode/1up

••• Beispiel für in den Kupferstich / die Radierung inserierte Schrift. Der Vorteil ist, dass sich die Schrift den einzelnen, auch den nicht waagrecht verlaufenden Bildteilen anpassen kann:

[Noël Antoine Pluche, 1688–1761], Schau-Platz der Natur, oder: Untersuchungen/Gespräche von der Beschaffenheit und den Absichten der natürlichen Dinge, wodurch die Jugend zu weitern Nachforschungen aufgemuntert und auf richtige Begriffe von der Allmacht und Weisheit Gottes geführet wird; mit 204 Kupfern, 8 Bände, Frankfurt und Leipzig: Monath, 1751 bis 1760; vierter Theil 1753.

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Tricks und Kniffe

Um nicht jedesmal das ganze Bild neu in Holz schneiden zu müssen, hat der Schlaumeier hier ein paar wiederholt verwendete Rahmen verfertigt (im Beispiel zeigen wir nur einen davon), in die er dann jeweils das aktuell interessierende Detail einfügt: die Haltung des Schwimmers, die im Text erläutert wird. Dass der Verlauf der Wellen nicht genau übereinstimmt, nimmt er in Kauf.

     

    

Everard Digby, De arte natandi libri duo, quorum prior regulas ipsius artis, posterior vero praxin demonstrationemque continet, London: Thomas Dawson 1587.
> https://archive.org/details/deartenatandilib00digb

Vgl. dazu das Kapitel zu den wandernden Bildern

Für oft wiederkehrende Visualisierungsaufgaben wurden vor der Computerzeit Schablonen eingesetzt: für Teile von elektronischen Schaltungen, architektonische Bauteile (Lavabo, Badewanne usw.), Bäume und Sträucher von Gartenanlagen usw. Hier eine Schablone für Laborgeräte (Erlenmeyerkolben, Bunsenbrenner, Waage usw.):

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Halbtöne — Schraffuren

Holzschnitte und Kupferstiche sind zwingend ›randscharf‹, während die Technik der Aquatinta oder der Lithographie es erlaubt, ›schummrige‹ Flächen darzustellen, was z.B. für die Darstellung eines physiologischen oder mikroskopischen Befunds wünschbar sein kann.

Insbesondere wenn das Objekt keine Struktur hat (wie etwa Vogelfedern, Fischschuppen), ist die Schraffier-Technik zur Darstellung runder Formen gefordert:

Inneres der Schale einer Wassermuschel, Holzschnitt aus: [Conrad Gessner], Fischbuoch: das ist ein kurtze, doch vollkommne Beschreybung aller Fischen so in dem Meer und süssen Wasseren, Seen, Flüssen oder anderen Bächen jr Wonung habend, sampt jrer waren Conterfactur […], Zürich: Froschauer 1563; Deß anderen Buchs die ander ordnung; Der dritte Theil.

Locomobile des MM. Cail et Cie., Holzstich aus: Louis Figuier, Les Merveilles de la Science ou description populaire des inventions modernes. Bd. I: La Machine a vapeur – Bateaux a vapeur – Locomotive et chemins de fer – Machine électrique – La Paratonnerre – La Pile de Volta – L’Electro-Magnétisme. Paris: Furne, Jouvet et Cie. [1870]; Fig. 212.

Die Kunstfertigkeit erhellt aus solchen Bildern:

Detail (20 mm breit) aus: Tafel Holzschneidekunst IV in: Der Große Brockhaus, 15. Auflage, Band 8 (1931).

Für die Darstellung von Geländeformen wurden allerhand Techniken eingesetzt, unter anderem Schraffen; vgl. das Kapitel zur Geographie. Hier ein Beispiel aus der Dufourkarte (nach 1840):

Verschiedene Schraffuren werden verwendet zur Auszeichnung von Gebieten auf Landkarten. Sie müssen so realisiert sein, dass sich eine deutliche Unterscheidung ergibt:

F. J. Monkhouse / H. R. Wilkinson, Maps and diagrams: their compilation and construction, London: Methuen, third ed. 1971; Fig. 30.

Choromorphographic Map of the West-Central United States East of the Rocky Moutains. […] The numbers in the key are as follows: 1. Extensive and flat high palins; 2. Flat valley-floor plains […] 10. Hill and mountain encalves.

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Linien

Siehe hier zu das spezielle Kapitel Linien.

• Beispiel für Einsatz von Linien: Das (nicht reale) Dorf ist stilisiert in Linienmanier gezeichnet; der Horizont als geschlossene Kreislinie; die dem Auge zu verschiedenen Jahreszeiten erscheinenden Sonnenbahnen sind gestrichelt.

Karl Thöne, Einführung in die Astronomie, (Hallwag Taschenbücher Band 42), Bern o.J., S.29

• Beispiel für Hilfslinien auf einem Objekt. Die damit unterteilten Gebiete sind numeriert, worauf sich die Legende bezieht:

Die Welt von A bis Z. Ein Lexikon für die Jugend, für Schule und Haus, hg. von Richard Bamberger u.a. Reutlingen / Wien / Aarau 1953, s.v. Fleisch

Mehr dazu unten.

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Räumliche Anordnung

Bei gewissen Visualisierungen ist der Graphiker frei, die räumliche Anordnung zu wählen. (Das gilt natürlich nicht bei Landkarten o.ä.)

Ein gutes Beispiel sind Tabellen, deren eine Dimension das sich wiederholende Jahr ist, so dass sich die Kreisform anbietet:

Ausnutzung der Übernachtungskapazität pro Monat. Aus: Großer Herder Atlas, hg. Carl Troll, Freiburg/Br. 1958; S. 64.

Es können auch mehrere Daten so angeordnet werden, zum Beispiel: die Tageslänge, die mittlere Temperatur, die Setzzeit von Wildtieren, die Jagdsaison für verschiedene Tiere.

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Farben

Farbigkeit ist nicht nur ein Gewinn punkto Anschaulichkeit (und Ästhetik), sie hat auch eine didaktische Funktion.

Techniken

••• Aquarell für Unikate. Hier aus: Conrad Gessner (1516–1565), Historia plantarum (Universitätsbibliothek Erlangen-Nürnberg MS 2386. 1 und 2)

> Digitalisat der Bibliothek

Vgl. Conrad Gessner, Historia Plantarum. Faksimilieausgabe. Aquarelle aus dem botanischen Nachlass von Conrad Gessner in der Universitätsbibliothek Erlangen, edited by Heinrich Zoller, Martin Steinmann / Karl Schmid, 8 Bände, Zürich: Urs Graf 1972–1980.

••• Holzschnitte / Kupferstiche die einzeln von Hand koloriert wurden.

Bilderbuch für Kinder enthaltend eine angenehme Sammlung von Thieren, Pflanzen, Blumen, Früchten, Mineralien, Trachten und allerhand andern unterrichtenden Gegenständen aus dem Reiche der Natur, der Künste und Wissenschaften; […] verfasst von F. J. Bertuch [1747–1822], 12 Bände. Weimar, im Verlage des Industrie-Comptoirs [1790]–1830.

••• Zur Rationalisierung der Arbeit wurden auch Schablonen (frz. pochoir) eingesetzt. Hier eine solche zum Einfärben von Spielkarten:

Encyclopédie, Planches, Seconde livraison (1763), Artikel Cartier; Planche Ière / bas, Fig. 6: Patron jaune. Il y en a pour toutes les couleurs.

••• Die Technik der Chromolithographie (vgl. den Artikel in der Wikipedia) erscheint ab der Mitte des 19. Jahrhunderts. Solche Bilder erkennt man (unter der Lupe) daran, dass die Farben nicht stetig aufgetragen sind (wie die aufgemalten Aquarellfarben), sondern in Rastermanier oder mittels Punktiermethode und für Farbnuancen durch Kombination solcher Raster erzeugt wurden:

Detail (25 mm breit) aus: Gotthilf Heinrich von Schubert [1780–1860], Naturgeschichte der Reptilien, Amphibien, Fische, Insekten, Krebstiere, Würmer, Weichtiere, Stachelhäuter, Pflanzentiere und Urtiere, […] 10. Auflage, Eßlingen: Schreiber, o. J. [1887].

Funktionale Zuordnungen (mehr dazu weiter unten)

Die Tafel illustriert das von Ernst Haeckel postulierte biogenetische Grundgesetz. Diesem zufolge stellt die embryonale Entwicklung eines Individuums (Ontogenese) eine kurze und schnelle Rekapitulation der gesamten stammesgeschichtlichen Entwicklung seiner Gattung (Phylogenese) dar.

Die in verschiedenen Wirbeltier-Typen einander entsprechenden Organe sind gleich eingefärbt.

Ernst Haeckel, Anthropogenie, oder, Entwickelungsgeschichte des Menschen. Gemeinverständlich wissenschaftliche Vorträge über die Grundzüge der menschlichen Keimes- und Stammes-Geschichte, Leipzig: Engelmann 1874.
> https://books.google.ch/books?id=SnDf7PeirJQC&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Bild zum zehnten Vortrag: Der Aufbau des Leibes aus den Keimblättern

Das Hautsinnesblatt ist durch orange, das Hautfaserblatt durch blaue, das Darmfaserblatt durch rothe, und das Darmdrüsenblatt durch grüne Farbe bezeichnet.

Fig. 3. Querschnitt durch die Keimscheibe des höheren Wirbelthieres mit der Anlage der ältesten Organe
Fig. 5. Querschnitt durch die Beckengegend und die Hinterbeine vom Embryo eines höheren Wirbelthieres
Fig. 7. Querschnitt durch einen höheren Wurm
Fig. 8 Querschnitt durch den Brustkorb des Menschen

Ferner werden in einer Legende die mit kleinen Buchstaben bezeichneten Organe identifiziert, z.Bsp.:

dd Dünndarm (ileum)
hk Herkzammer (ventriculus)
k Keimdrüsen
lr Luftröhre (trachea)

Regenradar. In einer Legende wird angegeben, was mit welcher Farbe (konventionell) gemeint ist, hier: welche Niederschlagsmenge (in mm pro Stunde) welcher Farbe zugeordnet ist.

Während hier die Farbzuordnungen willkürlich dem Regenbogen-Spektrum folgen und dadurch evtl. sogar kontra-intuitiv sind (blau, was man eher mit Wasser assoziiert = 1 mm/Stunde; orange, eher zu Sonnenschein passend = 20 mm/Stunde), hat der Graphiker für die Karte der Luftverschmutzung Farben in Brauntönen gewählt, die das Phänomen mimetisch zu veranschaulichen versuchen:

Diercke Weltatlas, Neubearbeitung 1974, Braunschweig: Westermann 1983/84, S.12: Ruhrgebiet

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Simulation dreidimensionaler Gebilde auf der Fläche

Perspektivische Darstellungen räumlicher Gebilde sind, seit es gedruckte Enzyklopädien gibt (etwa Gregor Reisch, »Margarita« 1503), üblich.

Agostino Ramelli (1531 – ca. 1610), Diverse et artificiose machine, [italien/frz Parallelausgabe, Parigi/Paris] 1588. > http://dx.doi.org/10.3931/e-rara-8944

Perspektivische Korrektheit ist nicht zwingend für das Verständnis; gelegentlich ist sogar eine ›kubistisch‹ aufgefaltete Darstellung besser verständlich:

[Girolamo Cardano 1501–1576] Offenbarung der Natur unnd Natürlicher Dingen auch mancherley subtiler würkungen. Durch den hochgelerten Hieronymum Cardanum/ Doctorn der artzney zuo Meyland erstlich zuo Latin außgegangen. Darin kunstlich die art und eigenschafft deß gantzen umbkreyß der welt / beide himmelischer und elementischer Spheren angezeiget werdend/ […] Getruckt zu Basel. [Heinrich Petri 1559]. 12. Buch: Von subteylen Handwerchen; pag. CCCCXC.

Das Wasserrad A treibt die Welle BC, auf die das Seil K mit der angehängten Last L aufgewickelt wird (GF); wenn die Stangen M und N auf die tritt oder stafflen B und C bei D und E niedergedrückt werden, kann die Welle angehalten werden.

Der französische Graphiker Jean Cousin hat ein Buch für den Zeichenunterricht verfasst. Darin demonstriert er den menschlichen Leib und dessen Gliedmaßen in den drei Dimensionen (Multiview projection; Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Normalprojektion).

Livre de pourtraiture, de maistre Jean Covsin, Paris
Innentitel:
La vraye science de la povrtraicture par Maistre Jean Cousin, A Paris 1656.
> Digitalisat bei Gallica.bnf.fr

Nur sehr selten ist diese Technik zu finden, mit der 3D-Gebilde auf Papier plastisch evoziert werden können. Zum Betrachten ist eine sog. Anaglyphen-Brille mit blauem und rotem Filter nötig.

Meyers Jugendlexikon, hg. Annelies Müller-Hegemann u.a., 7. Auflage, Leipzig: VEB Bibliographisches Institut 1977, Artikel Kegelschnitte.

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Didaktische Blickführung

❑ Zwecks Verdeutlichung vereinfachen / schematisieren / stilisieren die Graphiker das Vorbild mitunter.

(Es geht hier nicht um die Visualisierung eines abstrakten Typus wie z.B. ›das Wirbeltier-Skelett‹, ›Blütenstand der Korbblütler‹.)

Die Figur aus dem Book of Kells (fol. 130 recto) wird vereinfacht umgezeichnet, um die Linienführung herauszustellen bei Peter Meyer, Europäische Kunstgeschichte, Zürich 1947; 3. Auflage 1969, Band I, S. 149.

❑ ›Freistellen‹ (engl. ›cropping‹) heisst die Befreiung eines Motivs von einem störenden Hintergrund; damit soll sichergestellt werden, dass der Betrachter vom Hintergrund und anderem Beiwerk nicht abgelenkt wird.

Bei der Dynamomaschine ist die Umgebung mit komplizierter photographischer Technik optisch abgeschwächt, damit das interessierende technische Gerät heraussticht:

Der Große Brockhaus, Band 5, (1930), Tafel Dynamomaschine II.

Die Technik wird genau beschrieben in: Nikolaus Karpf (Hg.) Angewandte Fotografie, München 1960, S. 98, Legende zu Abb. 145/146.

Die Idee ist alt. In einem spätmittelalterlichen Erbauungsbuch geht es um die Fünf-Wunden-Andacht. Um die Gläubigen auf diese zu konzentrieren, wird der Leib Christi ausgeblendet:

[Johannes Justus von Landsberg], Spiegel der Euangelischer volkomenheit, wie der minsch durch syns selffs vertzyen sich zo Got keren, vnd syns hertzen reynichait vn vereynug mit Got erlangen mach ... Tzo samen vergadert durch die Carthuser jn Collen, [Köln], Jaspar von Gennep, 1536.

❑ Wenn sehr kleine Dinge dargestellt werden, kann der Graphiker gleichsam eine Lupe über das Objekt legen, so dass ein Ausschnitt vergrößert dargestellt wird.

Karl Steinbuch, Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen, 2. Auflage, Berlin u.a.: Springer 1963. Abb. 58: Ringkern-Speichermatrix (Der Ringdurchmesser beträgt 0,25mm.)

Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich 1945–1948; Band I, Sp. 750.

❑ Um darauf hinzuweisen, was im Focus des Interesses steht, fügt der Graphiker einen deiktischen (hinweisenden) Pfeil ein:

A typical example of pulmonary alveolar edema > https://radiologykey.com/recognizing-airspace-versus-interstitial-lung-disease/

❑ Bei Bildern mit vielen ähnlichen Elementen dient die Farbgebung der optischen Orientierung.

• Hier werden die Bewegungen des linken und des rechten Beins durch die Einfärbung verdeutlicht:

Otto Fischer, Der Gang des Menschen, III. Teil: Abhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften: Mathematisch-physische Classe, 26,3 (Leipzig 1900), S. 85ff. > https://archive.org/stream/abhandlungender72klasgoog#page/n204/mode/1up

• Um die Komplexität der Partitur im vierten Satz von Mozarts Sinfonie KV 551 (genannt »Jupiter-Sinfonie«) sichtbar zu machen, greift der Interpret zum Mittel der Einfärbung:

Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/41._Sinfonie_%28Mozart%29 aus: http://yuanyelele.is-a-geek.org:1986/wordpress/wp-content/uploads/2010/04

Takt 390–395 – Rot: Motiv A, gelb: Motiv C, grün: Motiv D1, schwarz: Motiv D2, blau: Motiv E.

• Im Diagramm (ein sog. ›Manhattan Graph›) erkennt man durch die Einfärbung leichter, welche Balken zusammengehören:

Pestalozzikalender 1965, S. 167.

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Angabe des Maßstabs

Außer beim Naturselbstdruck muss der Betrachter immer mit einer durch den Graphiker bewerkstelligten Vergrößerung oder Verkleinerung rechnen.

Helleborus niger, angustioribus foliis Tournef. Inst. p. 272. Rup 130 Schwartze Nieß=Wurtz. Christ=Wurtz.
Naturselbstdruck von Johann Hieronymus Kniphof (um 1747) Tafel 480 Katalog der wissenschaftlichen Sammlungen der Humboldt-Universität zu Berlin
> http://www.sammlungen.hu-berlin.de/dokumente/20021/

Damit man das maßstäblich veränderte Objekt von der Graphik wieder auf die richtige Größe zurückführen kann, wird das Maß der Vergrößerung / Verkleinerung angegeben. Die verschiedenen Verfahren werden auch kombiniert.

  • Das kann mit der Angabe eines Quotienten (engl. ›ratio‹) zahlenmäßig angegeben werden (z.B. 1 : 25’000)
  • oder durch Beigabe einer Messlatte realisiert werden,
  • durch Beistellen eines graphischen Elements, das die wirkliche Größe zeigt,
  • durch Überlagerung mit einem graphischen Element, das die wirkliche Größe zeigt,
  • oder auch anschaulich, indem als Vergleich ein Objekt verwendet wird, dessen Größe dem Betrachter bekannt ist.

Elektronenmikroskopische Aufnahme eines T2-Phagen (aus Brenner et al. 1959) in: Eberhard Habers, Nucleinsäuren. Biochemie und Funktionen, Stuttgart: Theime 1969; Abb. 122. Die Längenangabe ist: 1000 Ångström (10^-7 mm).

Neben den vergrößert gezeigten Insekten ist deren wirkliche Größe als Geradenstück dargestellt. Aus: Heinrich Rebau’s Volks-Naturgeschichte. Eine gemeinfassliche und ausführliche Beschreibung aller drei Reiche der Natur. Vierte Auflage mit 523 Abbildungen auf 48 colorirten Tafeln. Neu bearbeitet von Traugott Bromme. Stuttgart: Hoffmann’sche Verlags-Buchhandlung 1857; Tafel 31.

Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich 1945–1948; Band V, s.v. London.

Günther Binding, Architektonische Formenlehre, Darmstadt: wbg 1980; Abb. 414–417 (woher übernommen?). Wichtig ist hier, dass alle vier Darstellungen von gotischen Langhauswänden im gleichen Maßstab 1:500 wiedergegeben sind.

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Rahmen

In seltenen Fällen wählen die Visualisierer eine spezielle Rahmung.

Seltsam sind die Tücher, auf denen Gerard Blaes (ca. 1626–1682) gelegentlich seine anatomischen Präparate präsentiert. Was wird damit insinuiert? Oder ist es reiner Dekor?

Gerardi Blasii Amstelraedamensis, ... Anatome animalium, terrestrium variorum, volatilium, aquatilium, serpentum, insectorum, ovorumque, structuram naturalem ex veterum, recentiorum, propriisque observationibus proponens, figuris variis illustrata, Amstelodami: Sumptibus viduae Joannis à Someren, Henrici & viduae Theodori Boom 1681.
> https://books.google.ch/books?id=-PE051sG_PIC&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Eine Anregung waren sicher die Kupfer in: Claude Perrault, Description anatomique d'un cameleon, d’un castor, d’un dromadaire, d’un ours et d'une gazelle, Paris: Frédéric Leonard 1669.
>http://docnum.u-strasbg.fr/cdm/ref/collection/coll13/id/61563

Dessen Biber (unten das lebendige Tier in der Natur, oben auf der Textilunterlage die Eingeweide) hat Blasius in Tafel XIII kopiert:

Aber Blasius montiert auch andere Zeichnungen – die im Original freigestellt sind – auf solche ausgerollte Tücher. Das Hirn des Schafs wird in Wilsii anatomia so präsentiert:

Thomas Willis (1621-1675), Cerebri Anatome, London 1664. > https://archive.org/stream/cerebrianatomecu00will#page/n75/mode/2up

Bei Blasius erscheint es so (siehe unter IV):

Auf Tafel LVII zeigt Blasius zwei Abbildungen eines Insekts (Ephemera horaria, deutsch Hafftwurm, eine Art von Eintagsfliege) und weitere Details, die er Swammerdammius entnommen hat, auf einem ausgespannten Tuch:

Das Vorbild bei Swammerdam in: Ephemeri Vita Of afbeeldingh van 's Menschen Leven : Vertoont in de Wonderbaarelijcke en nooyt gehoorde Historie van het vliegent ende een-dagh-levent Haft of Oever-Aas. Een dierken, ten aansien van sijn naam, over al in Neerlandt bekent: maar het welck binnen de tijt van vijf uuren groeyt, geboren wordt, jongh is, twee-maal vervelt, teelt, eyeren leght, zaat schiet, out wordt, ende sterft ..., Door Johannes Swammerdam, t' Amsterdam: Wolfgang, 1675 ist ganz schlicht und ohne solchen Hintergrund abgebildet:

> https://books.google.ch/books?id=R3nLNd__ayMC&hl=de&source=gbs_navlinks_s

Die Darstellung findet sich auch anderswo. Johannes Zahn (1641–1707) druckt in seinem Buch Specula physico-mathematico-historica notabilium ac mirabilium sciendorum […], Nürnberg 1696 ein Flugblatt nach und kombiniert dieses Bild mit dem eines 1688 im Rhein gefundenen Monsters (Bellua pisciformis). Das erstere ist oben wiedergegeben auf einem solchen Tuch; das zweite unten in einer Flusslandschaft. Im Kapitel »de variis Exoticis Aquatilibus Monstris«, (Band II, S. 411f.) :

> http://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/4868506

Die Idee könnte aus dem Schulunterricht stammen, wo solche Tücher mit Bildern an der Wand aufgehängt waren – Vorläufer des Schulwandbilds. Eine frappant ähnliche Abbildung findet sich in Comenius’ »Orbis pictus«; deutlicher noch als in der Erstauflage 1658 in dieser späten Auflage, wo das Tuch deutlich in einem Raum aufgehängt ist:

Joan. Amos. Comenii Orbis pictus, Prag 1845. Thema: Das Haupt und die Hände.

Auch in Basedows »Elementarwerk« sieht man in einer Unterrichts-Szene solche Bilder an der Wand angepinnt:

2. Auflage 1785 > https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Chodowiecki_Basedow_Tafel_48_b.jpg

❏ Abbildungen von Bakterien werden gern in einem runden Bildausschnitt auf schwarzem Hintergrund gezeigt, als blickte der Betrachter des Buches durch das Okular eines Mikroskops. Die Illusion dient der Beglaubigung. (Hingewiesen wurde auf diese Technik bei: Horst Bredekamp / Angela Fischel / Birgit Schneider / Gabriele Werner: Bildwelten des Wissens, in: Bilder in Prozessen. Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 1,1, Berlin: Akademie-Verlag, 2003, S. 9–20).

Petit Larousse Illustré. Nouveau Dictionnaire Encyclopédique, publié sous la direction de Claude Augé; cent trente-sixième édition, Paris 1917.

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Stilisierung

Alle mimetischen Bilder betonen gewisse Eigenschaften und müssen zwangsweise von anderen absehen; sie abstrahieren (von lat. abs-trahere ›einer Sache etwas entziehen‹ [hier ist die Trennung s-t angebracht]). In der Kunsttheorie nennt man die Pole der möglichst geringen bzw. starken Abstraktion ›veristisch‹ und ›stilisiert‹.

Visualisierungen von Unikaten. Unikate können – und sollen aus verschiedenen Gründen – ohne Stilisierung, sondern mimetisch präzis abgebildet werden:

Komet 67P Tschurjumow-Gerassimenko

Picasso hat den Prozess der Stilisierung einmal schön vorgeführt:

Quelle?

Vereinfachung; Erkennbarkeit

Es fragt sich, wie eine Stilisierung aussehen muss, so dass das abgebildete Objekt eindeutig erkennbar bleibt.

Aus der Anfangszeit der EDV-isierung, als bereits Verfahren zur Zeichenerkennung erforscht wurden, stammt diese Überlegung:

Karl Steinbuch, Automat und Mensch. Kybernetische Tatsachen und Hypothesen, 2. Auflage, Berlin u.a.: Springer 1963, Bild 51: Bildvorlage bei verschieden feiner Quantisierung.

Es taugt offenbar nicht, ein Bild rein mechanisch zu vereinfachen; eine gelungene Stilisierung kommt nur zustande durch überlegte geistige Arbeit, mit der die »prägnante Gestalt« herausgestellt wird. (Vgl. Christian von Ehrenfels > http://gestalttheory.net/musicology/ehrenfels1932.html)

Hans Witzig, Wer zeichnet mit mir? Stuttgart 1957, S. 87. (Im Gegensatz zur Pixelgraphik oben könnte man hier von einer Vektorgraphik sprechen.)

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Funktionen von Stilisierung I: Ausblenden, vereinfachen, den Blick lenken, thematisch focussieren

••• Um eine (B giftige ) Otter von einer (A ungiftigen ) Natter unterscheiden zu können, genügt die Abbildung des Kopfs; der ganze übrige Schlangenkörper kann weggelassen werden (und wird nur im Begleittext erwähnt):

Pestalozzikalender 1952; S. 82.

••• Der geniale Illustrator Hans Witzig (1889–1973) hätte durchaus hier Gesichter zeichnen können; er lässt sie indessen weg, um den Blick auf die Kleider zu richten. (Das Schönheitspflästerchen gehört nicht zum Gesicht, sondern zur Kleidung …):

Hans Witzig, Zeichnen in den Geschichtsstunden, Band II, 5. Auflage: Zürich 1978, S. 84.

••• Versuchsanordnungen, technische Apparate, Phänomene werden in Enzyklopädien und Lehrbüchern stilisiert visualisiert:

         

Ulrich Seiler / W. Hardmeier, Lehrbuch der Physik, Zürich 1943 (und Neuauflagen); Erster Teil: Mechanik und Akustik (daraus Abb. 129); Zweiter Teil: Optik und Wärmelehre (daraus Abb. 408); Dritter Teil: Elektrizität und Magnetismus (daraus Abb. 512).

••• Landkarten mit spezieller Funktion stilisieren die Erdoberfläche stärker auf das Interessierende hin. Hier eine Karte für ein Kursbuch (rechts) im Vergleich mit der Darstellung der annähernd wirklichen Bahnlinien (links):

   

Eduard Imhof, Thematische Kartographie, Berlin / NY 1972, Abb. 44 und 45.

••• Hier wird das ergonomische Verhältnis der Höhen von Sattel und Lenkstange veranschaulicht. Der Velofahrer wird dazu auf die wesentlichen Teile hin stilisiert:

Helveticus 2 (1942), S. 277 (hier nur 2 von 3 Bildern gezeigt).

••• In der Heraldik kommen ähnliche Stilisierungen vor. Im Sinne des Ursprungs der Wappen, d.h. zur schnellen Identifikation von Freund/Feind anhand des bemalten Wappenschilds, ist eine eindeutige Visualisierung angebracht. Nach einer alten Regel soll ein Wappen oder eine Fahne auf 200 Schritt erkennbar sein. — Im Wappen von Günther von dem Vorste wird der ganze Forst zu einem Baum vereinfacht:

Aus der Manessischen Liederhandschrift (Cod. Pal. germ. 848, fol. 314verso > http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg848/0624/image)

Die Stilisierung in der Heraldik kann so weit führen, dass das Ausgangsbild kaum mehr erkenntlich ist. Die gemeine Figur Fleur-de-Lys wird dann zu einer Art Pictogramm:

Aus Cosmographia. Beschreibung aller Lender durch Sebastianum Munsterum, Basel: Heinrich Petri, 1546.

••• Die Stilisierung kann auch auf künstlerischer Absicht beruhen. Der Graphiker Paul Boesch (1889–1969) hat viele Jahre lang technikgeschichtliche Zeichnungen für den Pestalozzikalender angefertigt, alle einheitlich in holzschnitt-artiger Technik. Dabei hat er oft auf Vorlagen zurückgegriffen, die für das kleine Format des PK nicht reproduzierbar gewesen wären. Hier als Beispiel ein Holzstich (10 x 14 cm):

Louis Figuier, Les Merveilles de la Science ou description populaire des inventions modernes. [Bd.I:] La Machine a vapeur – Bateaux a vapeur – Locomotive et chemins de fer – Machine électrique – La Paratonnerre – La Pile de Volta – L’Electro-Magnétisme; Paris: Furne, Jouvet et Cie. [1870]; Fig. 238: Inflammation de l’esprit de vin par une étincelle électrique. (Das ganze Werk hier > https://fr.wikisource.org/wiki/Les_Merveilles_de_la_science)

P.Boesch vereinfacht nicht nur, sondern lässt die Dame auch die Schale mit dem Spiritus so halten, dass man das zentrale Ereignis vor dem leeren Hintergrund gut sieht. Den Arbeiter, der die Kurbel bewegt, welche die Glaskugel antreibt, lässt er ganz weg:

Bruno Kaiser, 10 000 Jahre Schaffen und Forschen. 266 Holzschnitte von Paul Boesch, Bern: Pestalozzi-Verlag Kaiser & Co. 1940; S. 166.

Es wäre interessant zu wissen, ob P.Boesch auch das Bild in der »Bilder-Akademie für die Jugend« von Johann Sigmund Stoy (1745–1808) gekannt hat:

Bilder-Akademie für die Jugend. Abbildung und Beschreibung der vornehmsten Gegenstände der iugendlichen Aufmerksamkeit – aus der biblischen und Profangeschichte, aus dem gemeinen Leben, dem Naturreiche und den Berufsgeschäften, aus der heidnischen Götter- und Alterthums-Lehre, aus den besten Sammlungen guter Fabeln und moralischer Erzählungen - nebst einem Auszuge aus Herrn Basedows Elementarwerke. In vier und fünfzig Kupfertafeln und zweyen Bänden Erklärung herausgegeben von J. S. Stoy, Prof. der Pädagogik in Nürnberg, Nürnberg 1784; Tafel 38; Bild 2.

Text dazu (Band II, S.773): Auf der Tafel sieht man eine solche [Elektrisir-]Maschine […] und einen aufgehängten eisernen Drath, davon das eine Ende nahe an der Kugel ist. Dieser Drath berühret einen Menschen, der auf Harz stehet, und mit dem ausgestreckten Finger Weingeist anzündet, der ihm in einem Löffel vorgehalten wird.

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Funktionen von Stilisierung: Das Beispiel DNA

Anhand einer mittelkomplexen chemischen Struktur lässt sich zeigen, wie mittels Stilisierungen gewisse Aspekte hervorgehoben, andere ausgeblendet werden.

1953 stellten James Watson und Francis Crick eine dreidimensionale Visualisierung der DNA (Deoxyribose Nucleic Acid) vor:

Die fünfeckigen Platten stellen die Zuckermoleküle (Ribose) dar, die über Phosphatbindungen zu Strängen verbunden sind; von ihnen gehen die Basen ab, von denen immer zwei zusammenpassende die beiden Stränge mittels Wasserstoffbrücken verbinden: Guanin — Cytosin und Adenin – Thymin. Die beiden so zusammengehaltenen Stränge haben eine spiralige Struktur, genau genommen eine Doppelhelix, was in dem Modell bereits vereinfacht ist.

In ihrem Artikel in NATURE Nr. 4356 vom 25. April 1953, p. 737 haben Watson und Crick die Figur vereinfacht: This figure is purely diagrammatic. Hier geht es ihnen darum, die spiralige Struktur zu zeigen:

Ein Modell, in dem die Atome und Moleküle als Kalotten dargestellt sind, lässt den Bau der Doppelhelix erkennen, aber die Bindungen A–T und C–G werden so verdeckt:

Eberhard Harbers, Nucleinsäuren, Stuttgart: Thieme / dtv (WR 4049) 1969, Abb. 11.

Möchte man die Replikation der DNA zeigen, so irritiert die spiralige Struktur, hingegen kann ›entspiralisiert‹ gut die Passung zwischen C–G bzw. A–T veranschaulicht werden:

Klaus Wolf, Die Gene, Bausteine unserer Welt, Ullstein 1982, S. 51.

In der folgenden Abbildung wird auf die atomare Struktur der Basenpaare focussiert. (Weil ein RNA-Strang gemeint ist, steht hier statt Thymin Uracil). Ausgeblendet ist hier der Ribose-Strang, an dem die Nukleinbasen angebunden sind (nur der Ort ist markiert mit: — 1´C):

Evolution. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 3. Auflage 1983, S. 60.

Der Kenner der Materie braucht den Molekülaufbau und die Helix-Struktur nicht gezeichnet bekommen, wenn er einen langen DNA-Strang betrachten will; das wäre auch störend; ihm genügt und ist dienlicher die Abfolge der vier Buchstaben G, C, T, A:

Hinweis: Vgl. die Website http://www.mrothery.co.uk/genetics/dnanotes.htm {Juni 2018}

 

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Funktionen von Stilisierung II: Bessere Vergleichbarkeit

••• Um einen Vogel anhand seines Flugbildes von andern Vögeln unterscheiden zu können, dient die Stilisierung als Silhouette:

1 Wanderfalke. 2 Baumfalke. 3 Turmfalke. 4 Habicht. 5 Sperber. 6 Mäusebussard. 7 Wespenbussard. 8 Schwarzer Milan. 9 Roter Milan (Gabelweih).

Schweizer Lexikon in sieben Bänden [hg. Gustav Keckeis u.a.] Encyclios-Verlag Zürich 1945–1948; Band 3, S.475 (Ausschnitt).

••• Nach anatomischen Gesichtspunkten wird ein Liniennetz über die Photographien verschiedener Leiber gelegt, so dass die Proportionen besser sichtbar werden. (In Meyers Lexikon ist einzig die Ästhetik das Thema; die Europäer schneiden übrigens schlecht ab.)

Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6., gänzlich neubearbeitete u. vermehrte Auflage. 20 Bde. Bibliographisches Institut, Leipzig u. Wien 1902–08; Band 13, s.v. Die Gestalt des Menschen. [Linien im Original farbig] > http://www.zeno.org/Meyers-1905/B/Mensch?hl=mensch

Die Idee geht zurück auf das Buch von Carl Heinrich Stratz, Die Rassenschönheit des Weibes, Stuttgart: F. Enke 1901. > https://archive.org/details/dierassenschonhe00stra woraus dieses Bild hier.

Im Hintergrund stehen Ideen von Albrecht Dürers Proportionslehre (1528) oder das Werk von Heinrich Lautensack, Des Circkels vnnd Richtscheyts, auch der Perspectiua, vnd Porportion der Menschen vnd Rosse, kurtze, doch gründtliche vnderweisung, deß rechten gebrauchs, [Frankfurt a.M.], 1564

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Zur Geschichte der Stilisierungen

••• Bei kulturell oder zeitlich weit abliegenden Gebilden ist man nicht so sicher, ob es sich um Stilisierungen handelt oder um Unfähigkeit, eine veristische Zeichnung anzufertigen. Hier Felsmalereien in Südspanien:

Schatzkästlein 1949, S 97

••• Vielleicht steht das Prinzip der Stilisierung durch Weglassen der Gesichtszüge hinter solchen Bildern aus dem Oldenburger Sachsenspiegel (1336 in Auftrag gegeben). Es geht nicht um bestimmte Personen, sondern um Amtsträger:

Quelle: Mscr.Dresd.M.32 > http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/6439/1/

••• Zur Angabe einer Schlachtordnung genügt es, die einzelnen Heeresteile stilisiert darzubieten. (a) die Ordnung dero Schützen/ (c) die Ordnung der Reuterey/ (p) dero Piquirer / (o) der Bagage und Trosses/ und dann (†††) deß Geschützes.

Wilhelmi Dilichii [1572–1655] Hochvernünfftig gegründet- und auffgerichtete/ in gewisse Classen eingetheilte/ bißher verschlossen gelegen/ numehr aber Eröffnete Krieges-Schule. […], Franckfurt am Mayn: Zunner 1689. Anderer Theil, S.141.

••• Die Abbildungen von Blütenständen waren realitätsnah, wurden dann immer abstrakter.

Aus der Legende: Zu den traubenartigen B.nständen gehören: die die Ähre (spica 1) mit gestreckter Hauptachse u. sitzenden B.n, […] mit fleischiger Achse als Kolben (spadix 3), mit verholzter Achse als Zapfen (conus) bezeichnet.

Herders Konversations-Lexikon 3. Auflage, 1902–1907; s.v. Blüte.

Aus der Legende: Schraubel (S) – es kommt immer nur ein Seitenast zur Entwicklung, und zwar immer auf der gleichen Seite.

August Binz , Schul- und Exkursionsflora für die Schweiz, 13. Auflage, bearb. von Alfred Becherer, Basel: Schwabe 1968; Seite XXVI.

••• Das Bild der Schmiede-Werkstatt in der Enyclopédie ist kein Abbild einer wirklichen Schmitte, sondern meint eine typische. Im Bilderduden empfinden wir die Stilisierung wegen der fehlenden Binnenzeichnung der Figuren als stärker:

Encyclopédie, Recueil de Planches, Neuvieme Volume (1771), Serrurier, Pl. I.

Der Große Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache … hg. Otto Basler, Leipzig: Bibliographisches Institut 1935; Tafel 115.

Der Stil der Umrisszeichnungen hat eine Tradition:

  • In der numismatischen Literatur werden die Münzbilder in Umrisslinien dargestellt, vgl. Ezechielis Spanhemii Dissertationes de praestantia et usu numismatum antiquorum, Amsterdam: Elsevir 1671.
  • Die ästhetische Entdeckung der griechischen (rotfigurigen) Vasenmalerei (um 1760) hat den Umrisslinienstil gefördert.
  • Er findet sich z.B. in den Zeichnungen von Asmus Jakob Carstens (1754–1798) zu: Götterlehre oder mythologische Dichtungen der Alten. Zusammengestellt von Karl Philipp Moritz, 1791.
  • Bekannt wurde der Stil durch Sujets de l’Iliade d'Homère, gravés d’après les compositions de John Flaxman [1755–1826] sculpteur anglais, Paris [ca. 1803].
  • Goethes Meinung über Flaxmann war zwiespältig: seine Verdienste sind alle leicht zu fassen und haben von vielen Seiten eine Annäherung an das was man im allgemeinsten empfindet, kennt, liebt und schätzt...
  • Moritz Retzsch (1779–1857) verwendete den Stil sodann für die Umrisse zu Goethe’s Faust, Stuttgart / Tübingen: Cotta 1816.
  • Literatur zum Thema > Charlotte Kurbjuhn, Kontur. Geschichte einer ästhetischen Denkfigur, de Gruyter 2014 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 81 [315]).

Damit sind wir schon beim nächsten Unterabschnitt:

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Die ästhetische Dimension

Im Zusammenhang mit Wissensvermittlung die Ästhetik zu bemühen ist misslich. Balken- oder Kuchendiagramme müssen die vorgegebenen Daten widerspiegeln, ein Querschnitt durch einen Körper soll zeigen, was man dort sieht usw. Solche bildliche Darstellungen sollen – im Gegensatz etwa zu Bildern in der Werbung – kein Wohlgefallen erregen. Bei der Visualisierung von Wissenselementen gilt der Satz ›form follows function‹.

❑ Schön kann eine Visualisierung sein, weil uns das damit abgebildete Objekt gefällt; das hat aber mit der Visualisierung an sich nichts zu tun. Bewundern kann man indessen die zeichnerische Fertigkeit. Ein Beispiel wären etwa die Vogel-Bilder von John Gould (1804–1881):

https://australianmuseum.net.au/image/great-bird-of-paradise-john-gould

❑ Schönheit kann sich dort ereignen, wo der Graphiker eine gewisse Freiheit der Darstellung hat. Dann kann das Wohlgefallen ›interesselos‹, d.h. entkoppelt von den Zwängen, die das Objekt auferlegt, sein. — Ein solcher Fall ist etwa eine Sternkarte, welche die mythologischen Figuren wiedergibt: Die Lage der Sterne ist vorgegeben, die Figuren selbst kann ein Künstler ausgestalten, wie das Albrecht Dürer 1515 gemacht hat.

Man vergleiche die Darstellungen der Andromeda:

   

links: Hygin, Poeticon astronomicon, Venedig: Ratdolt 1482. > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00054123/image_1

rechts: Giovanni Paolo Gallucci [1538-1621], Theatrum mundi …, Venedig 1589. > http://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/11886294 – Rückenansicht; verlorenes Profil; bewegte Figur …

❑ Ein Fall, wo der künstlerischen Phantasie viel Raum gegeben ist, sind die Bilder von Schlachten in der chronikalischen Literatur. Es gab ja keine ›embedded reporters‹. Die Graphiker haben – wenn nicht spezifische Verhältnisse zu berücksichtigen waren wie z.B. der Ort, der in einer Stadtvedute repräsentiert wurde – möglichst grausliche Bilder von aufeinander treffenden Heeren entworfen, denen wir durchaus ästhetische Qualitäten zuschreiben können.

• In Petrarcas Buch von zweierlei Glück klagt der Schmertz: Ich bin in einer vnglückhafftigen schlacht vberwunden worden. – Die Vernunfft tröstet psychologisch geschickt: Dye forcht ist verschwunden/ Du wyrdest nu anheben zuo hoffen […].

Das Thema gibt dem unbekannten Meister Anlass zu einer seiner lebendig-unklaren Schlachtdarstellungen (Buch II, Kapitel lxxiii):

Franciscus Petrarcha, Von der Artzney bayder Glück / des guten vnd widerwertigen […]. Augspurg: H. Steyner MDXXXII. Digitalisat der BSB > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00084729/image_507

• Andere Künstler bevorzugen das Aufeinandertreffen von gleichgerichteten Speerwäldern:

Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten / Landen vnd Völckeren Chronik wirdiger thaaten beschreybung […] durch Johann Stumpffen beschriben […] Zürich bey Christoffel Froschouer M.D.XLVII. Das erst Buoch, Fol. 150 verso.

(Einige Holzschnitte werden in diesem Buch für verschiedene Schlachten mehrfach verwendet; es geht offensichtlich nicht immer darum, ein bestimmtes Ereignis zu charakterisieren. Hier die Schlacht von Kaiser Probus gegen die Germanen zum Schutz Galliens im Jahr 278; es stört nicht, dass links typische Türken und rechts Christen gezeichnet sind …)

❑ Ob die Abbildung eines Tintenfischs verpatzt oder ästhetisch gelungen ist, lässt sich schwerlich feststellen. Beim menschlichen Antlitz oder Leib dagegen sind wir heikel. — Mittels einer Anspielung auf ein Kunstwerk kann ein Graphiker (in seltenen Fällen) seine Visualisierung herausputzen. — Der Figur, anhand derer im Bilderduden Wörter wie 2 die Schläfe – 9 die Achselhöhle – 12 die Hüfte (Taille) – 18 der Knöchel – 25 die Armbeuge – 29 der Spann erklärt werden, ... hat die Venus Medici Pate gestanden:

   

Der Große Duden. Bildwörterbuch der deutschen Sprache, hg. Otto Basler, Leipzig: Bibliographisches Institut 1935; Tafel 2: Mensch II, A (Freundlicher Hinweis von P.Tanner)

❑ Wenn das Bild Vorbild für ein zu schaffendes Werk abgeben soll (eine spezielle Funktion der Visualisierung), kann die Ästhetik wichtig sein. Die Tafelbände der Encyclopédie enthalten viele solche Bilder. Hier die Vorderachse einer Kutsche vom Typ Berline:

Encyclopédie, Planches, Neuvieme Volume (Pairs 1771); Sellier-Carossier, Pl. V.

❑ Teilbilder können aus rein ästhetischen Gründen angeordnet sein. Ernst Haeckel schwankte lange, ob er Künstler oder Biologe werden wollte. (Gute Darstellung bei Andrea Wulf, Alexander von Humboldt und die Erfindung der Natur, München: Bertelsmann 2016, S. 372–391.) Im Vorwort zu »Kunstformen der Natur« (1899) schreibt er: Die Natur erzeugt in ihrem Schoße eine unerschöpfliche Fülle von wunderbaren Gestalten, durch deren Schönheit und Mannigfaltigkeit alle vom Menschen geschaffenen Kunstformen weitaus übertroffen werden. […] Seit frühester Jugend von dem Formenreize der lebendigen Wesen gefesselt und seit einem halben Jahrhundert mit Vorliebe morphologische Studien pflegend, war ich nicht nur bemüht, die Gesetze ihrer Gestaltung und Entwicklung zu kennen, sondern auch zeichnend und malend tiefer in das Geheimnis ihrer Schönheit einzudringen. […] Die moderne bildende Kunst und das moderne, mächtig emporgeblühte Kunstgewerbe werden in diesen wahren »Kunstformen der Natur« eine reiche Fülle neuer und schöner Motive finden.

Kunstformen der Natur. Hundert Illustrationstafeln mit beschreibendem Text, allgemeiner Erläuterung und systematischer Übersicht von Ernst Haeckel, Leipzig [u.a.]: Verlag des Bibliographischen Instituts 1904.
> http://caliban.mpipz.mpg.de/haeckel/kunstformen/index.html (mit den Texten)
> http://www.zeno.org/Kunstwerke/A/Haeckel,+Ernst (nur die Bilder)

❑ Bei Pictogrammen – die ja nicht den Anspruch haben, etwas genau abzubilden, sondern nur eine Erinnerung wecken wollen – ist ein künstlerischer Einschlag gut möglich. Sie unterliegen mithin auch der Mode; das hat Otl Aicher einmal schön gezeigt:

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Mediale Zwänge – historische Befangenheit

❑ Das Medium Sprache lässt die Wörter schematisch offen – das Medium Bild zwingt zu einer Konkretheit. (Mehr dazu im entsprechenden Kapitel hier.)

Beispiel: Zur Darstellung des Tonfilmateliers muss der Graphiker irgendeine Szene, die hier gedreht wird, zeichnen; hier sind die Darsteller (6 und 7) als höfisches Paar vor einem romanischen Torbogen ausgestattet.

Bildwörterbuch deutsch und russisch, mit 194 Text- und Bildtafeln, […], 4., neu bearb. und erw. Aufl., Leipzig: Verlag Enzyklopädie 1966. Tafel 92: Die Innenaufnahme im Filmatelier — 6 die Schauspielerin — 7 der Schauspieler

❑ Hintergrundswissen hat einen Einfluss auf die Realisation von Bildideen; jeder Graphiker ist beeinflusst vom geschichtlichen Umfeld seiner Zeit.

Beispiele: Graphiker des 16./17. Jahrhunderts haben bei der Illustration antiker Texte Gewänder und Bauten im Stil der eigenen Zeit dargestellt. (Streng genommen handelt es sich hier nicht um wissensvermittelnde Bilder im Sinne des Projekts.)

• Während Homer (7. Gesang der »Odyssee«) oder sein Übersetzer einfach sagen können: Vlysses kumpt … in den Künigklichen hoff/ thuot sein gebert [Gebärde; er verneigt sich] zuo der Künigin Areten … vnd fragt/ woher jm das klaid kumme/ das sy selbst gewürkt … muss der Graphiker die Figuren einkleiden und in einen würdigen Raum stellen: Odysseus in der Tracht eines Mannes mit Faltrock im Stil eines Bilds von Lucas Cranach; die Königin vor dem Kaminfeuer eines deutschen Bürgerhauses:

Odyssea. Das seind die aller zierlichsten vnd lustigsten vier vnd zwaintzig Bücher des eltisten kunstreichesten Vatters aller Poeten Homeri/ von der zehen järigen irrfart des weltweisen Kriechischen Fürstens Vlyssis/ beschriben/ vnnd erst durch Maister Simon Schaidenreisser […] zuo Teütsch tranßferiert/ mit argumenten vnd kurtzen scholijs erkläret […] Augustae Vindelicorum: A. Weissenhorn 1537; Fol. XXVI verso. > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00029336/image_68

• Aeneas berichtet zu Beginn des 2. Buchs von Vergils »Aeneis« vom Untergang der Stadt Troja. Er kann die Stadt einfach so benennen; der Graphiker muss eine zeichnen. Die Szenen in der von Sebastian Brant 1502 herausgegebenen »Aeneis« spielen durchwegs vor mittelalterlichen Städten:

Publij Virgilij maronis opera ... expolitissimisque figuris atque imaginibus nuper per Sebastianum Brant superadditis, Straßburg: Iohannis Grieninger 1502. Fol. CLVI verso (Beginn des 2. Buchs)

• Ovid schildert in den »Metamorphosen« das Haus der Fama (12. Buch, Verse 39ff.; Übersetzung von Johann Heinrich Voß, 1798):

Rings unzählbare Gäng’ und der Öffnungen Tausende ringsher
Gab sie dem Haus, und es sperrte nicht Tor noch Türe die Schwellen.
Tag und Nacht ist es offen; und ganz aus klingendem Erze,
Tönet es ganz und erwidert den Laut, das Gehörte verdoppelnd.

Der Graphiker setzt die Phantasie in Realität um; das Haus wird zu einem Palast im Stil des Barock:

Des vortrefflichen römischen Poëtens Publii Ovidii Nasonis Metamorphoseon, Oder: Funffzehen Bücher Der Verwandlungen/ Ehmalen durch den berühmten Wilhelm Bauer in Kupffer gebracht ... [o.J.], ca. 1709 (EA 1641).

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Erste Fassung online gestellt im August 2017; ergänzt im Dezember 2017 und im Juli 2018 — PM

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