Umsetzung in ein Modell |
Einleitung: Die Begriffe ›Modell‹ und ›Explanandum‹Denk-Modelle dienen dazu, ein wenig bekanntes System (das Explanandum) in vereinfachter Form zu repräsentieren. Modelle entstammen einem anderen Weltbereich als das Explanandum (das Phänomen der Interferenz beim Licht kann man mit Wasserwellen simulieren). Zwischen Explanandum und Modell gibt es eine Reihe von Entsprechungen (›Analogien‹): relevante Eigenschaften werden genau abgebildet, irrelevante aber definiert vernachlässigt (im Modell eines Flugzeugs für den Windkanal muss die Aussenform genau übereinstimmen, aber die Farbe des Rumpfs kann vernachlässigt werden; es müssen keine Passagiere im Inneren sitzen). Modelle können verschiedene Funktionen haben: bessere Anschaulichkeit, risikofreie Manipulierbarkeit (in der Biologie von Bedeutung), Kostenreduktion (mein Ferrari im Maßstab 1:24 in der Vitrine), u.a.m. Literatur:
In diesem Kapitel geht es darum: Es gibt Objekte, die zunächst in ein Gedankenmodell umgesetzt werden, das dann visualisiert wird.
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Zur Verwendung des Begriffs ›Modell‹••• ›Veristische‹ Abbilder sind genaugenommen Modelle im angegebenen Sinn: Modell-von-etwas. Man kann sich das anhand der Landkarte klarmachen: Das Explanandum ist die Erdoberfläche; die Landkarte ist ein Modell davon. Gewisse Elemente werden genau repräsentiert: der Umriss einer Insel, die Lage der Orte zueinander, die Winkel zwischen ihren Verbindungslinien (die Loxodrome in der Mercator-Projektion) – anderes wird verändert: für die Landwirtschaftszonen wird eine einzige Farbe gewählt, egal, ob dort Mais oder Gras wächst – anderes wird ganz weggelassen; so bei einer Straßenkarte die Höhen der Berge – anderes wird hinzugefügt: die Flurnamen und das Gradnetz.
••• Eine andere Verwendung von ›Modell‹ ist die Vorlage zur Konstruktion von etwas noch nicht Existierendem (Modell-für-etwas); zur Unterscheidung spricht man besser von einer Planzeichnung. Weitere Beispiele unten.
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Beispiele aus der Elektrotechnik••• Erklärt werden soll, warum Elektrizitätswerke nicht niedrige, weniger gefährliche Spannung in den Überlandleitungen verwenden. Kupfer ist teuer und man will vermeiden, dicke Drähte an die Masten hängen zu müssen. Das Modell veranschaulicht anhand der beiden marschierenden Schulklassen, dass bei hoher Spannung gleich viel Energie durch einen dünnen Draht geschickt werden (die durch das schmale Portal rennenden Knaben) kann wie niedrige Spannung durch einen dicken (die durch das breite Portal gemächlich schreitenden Knaben). Dieses Gedankenmodell kann bildnerisch umgesetzt werden:
Die Dicke der Drähte wird durch die Größe des Portals modelliert; die Spannung durch die Geschwindigkeit der durchmarschierenden Schüler; die Menge der Energie durch die Anzahl der Schüler. Im erklärenden Text werden die beiden Sphären (Explanandum und Modell) mittels Metaphern miteinander verschränkt (Eiltempo, gemächlich):
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Beispiel aus der Physik: AtommodellDer Große Herder ( Band I, 1931) schreibt im Artikel Atom: Rutherford stellte sich (1911) das A. als ein Planetensystem im Kleinen vor. Der Sonne entspricht darin ein elektropositiv geladener Kern, den Planeten elektronegativ geladene Elektronen, die auf Ellipsenbahnen mit ungeheuren Geschwindigkeiten (ungefähr 1000 Billionen Umläufe in der Sek[unde]) um ihn kreisen. […] Durch Anwendung der Planckschen Quantentheorie konnte Bohr (1913) ein Atommodell aufstellen, das besser mit den Tatsachen übereinstimmte, indem er den Elektronenbahnen bestimmte ausgezeichneten Quantenbahnen zuschrieb (Bild 2). Wikipedia (https://de.wikipedia.org/wiki/Rutherfordsches_Atommodell) präzisiert: »Entgegen häufig zu findenden Darstellungen in Lehrbüchern und anderen Sekundärquellen entwickelte Rutherford kein eigenes Modell der Elektronenstruktur von Atomen, er zitierte lediglich […] Nagaokas ›planetarisches Modell‹ […]«. Bei Ernest Rutherford, »The Scattering of α and β Particles by Matter and the Structure of the Atom«, in: Philosophical Magazine, Series 6, vol. 21, May 1911, p. 669–688 steht der Satz: It is of interest to note that Nagaoka (1904) has mathematically considered the properties of the Saturnian atom which he supposed to consist of a central attracting mass surrounded by rings of rotating electrons. Vgl hierzu https://de.wikipedia.org/wiki/Nagaoka_Hantarō: »Im Jahr 1904 entwickelte Nagaoka ein frühes ›Planeten-Modell‹ des Atoms (saturnian theory), welches das Atom als große, positiv geladene Kugel beschreibt, die von den negativ geladenen Elektronen umkreist wird.« Im genannten Aufsatz Hantarō Nagaoka: »Kinetics of a system of particles illustrating the line and the band spectrum and the phenomena of radioactivity«, in: Philosophical Magazine. 7, 1904, S. 445–455 nennt Nagaoka als Vorläufer des Saturnian system Maxwell und Oliver Lodge. In der Publikation von Niels Bohr, »On the Constitution of Atoms and Molecules«, in: Philosophical Magazine 26, 1913, pp. 1–25 und pp. 476–502 findet man Formulierungen wie die folgenden:
Visualisierungen des Planetenmodells findet man bei den genannten Physikern nicht, hingegen in einem Aufsatz von Max Born (1882–1970), Der Aufbau der Materie: Drei Aufsätze über moderne Atomistik und Elektronentheorie, 1920, S.28:
Später folgen die populären Enzyklopädien wie der zitierte Herder. |
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Beispiele aus der Medizin / Physiologie••• Tobias Kohen (1652–1729) schrieb die Enzyklopädie »Ma'aseh Tobiyyah«. Darin findet sich 1707 die vergleichende Darstellung der Anatomie des menschlichen Körpers und der Architektur eines mehrstöckigen Hauses.
••• In der Tradition der iatromechanischen Modelle steht Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733). Die Stelle Hiob 27,3: »So lang mein Athem in mir ist, und der Blast, den mir GOTT gegeben hat, in meiner Nasen ist.« ist ihm Anlass, über das wunderbare Funktionieren der Lunge zu sprechen. Die Lunge wird mit einem Blasbalg verglichen und als Maschine (machina, in der lat. Ausgabe Fol. 731b) bezeichnet.
••• In dieser Tradition stehen die Modelle/Visualisierungen von Fritz Kahn (1888–1969): »Der Mensch als Industriepalast« (1926) > http://www.fritz-kahn.com/gallery/man-as-industrial-palace/ In einem anderen Bild erklärt F. Kahn den Aufbau des Körpers wiederum anhand eines Modells des Hauses; hier geht es um den "Aufbau" größerer Strukturen aus kleineren. Die miteinander verglichenen Welten sind parallel übereinander gezeichnet:
Literatur: Uta von Debschitz und Thilo von Debschitz, Fritz Kahn – Man Machine / Maschine Mensch, Verlag Springer, Wien / New York 2009. ••• Die Bilder von Fritz Kahn sind im Web omnipräsent. Hier ein Beispiel seines weniger bekannten Konkurrenten Gerhard Venzmer (1893–1986): Die innersekretorischen Funktionen des Organismus (Insulin und Adrenalin regeln den Zucker-Stoffwechsel) werden hier in einem mechanistischen Modell von zwei Männern modelliert, die einen Schiebe-Regler bedienen.
Literatur: Heiko Stoff, Hormongeschichten. Wie sie in den Jahren 1928 bis 1954 von den Wissenschaftsjournalisten Walter Finkler und Gerhard Venzmer erzählt wurden, in: zeitenblicke 7, Nr. 3, [2008] > http://www.zeitenblicke.de/2008/3/stoff/dippArticle.pdf {10.08.2016} |
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Beispiele aus der Biologie••• Hydromechanisches Modell eines Motivationssystems / der Verhaltensauslösung aus: Konrad Lorenz (1903–1989), The comparative method in studying innate behavior patterns. Symposia of the Society for Experimental Biology 4, Cambridge UP 1950, pp. 221–254. > http://klha.at/papers/1950-InnateBehavior.pdf
Konrad Lorenz spricht 1950 von einer extreme crudeness and simplicity des Modells. Er hat es dann revidiert in: Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie, Heidelberg: Springer 1978; bes. S.143 Online-Publikation der Graphik mit ausdrücklicher Erlaubnis (E-Mail vom 16.08.2016) des Vereins »Freunde des Konrad Lorenz Hauses Altenberg« > http://klha.at/projekt_verein.html ••• Ähnlich wie Fritz Kahn (s.oben) – aber noch etwas stringenter – hat Rupert Riedl (1925–2005) anhand eines Modells erläutert, dass Subeinheiten nur in ihren Obereinheiten ihren Sinn haben:
Literatur > http://rupertriedl.org/ |
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Beispiel aus der OekonomieWer das Wort Bilanz braucht, gibt sich wohl kaum Rechenschaft, dass dahinter das Modell einer Waage steht. Das Wort (auch in anderen Sprachen balance) kommt von lateinisch [libra] bilanx, gebildet aus bis ›zwei‹ und lanx ›Schüssel, Schale‹.
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Beispiel aus der SpiritualitätInsofern (Ding-)Allegorien einen Sachverhalt anhand einer Struktur / Erzählung in einer anderen Welt erläutern und plausibilisieren, sind es ebenfalls Modelle. Im Beispiel soll dargelegt werden, daß, obgleich ein Christ, der aufrichtig wandelt, von der Welt getadelt, übel geurtheilet und gelästert wird, er dennoch derjenige bleibet, der er ist, ein frommer und rechtschaffener Christ […]. Das ist das Explanandum. Als Modell dient ein ebenso paradoxes Phänomen aus der Physik:
Vgl. zum Thema ›Embleme‹ > http://www.symbolforschung.ch/embleme |
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Hintergrunds-ModelleHier wurden einschlägige Fälle von explizitem Modell-Gebrauch behandelt. Viele Visualisierungen basieren indessen auf impliziten modellhaften Vorstellungen:
Hier ein Beispiel für die Vorstellung der ›Kulmination‹ eines historischen Ablaufs (lateinisch culmen bedeutet Gipfel, Höhepunkt, Scheitel, Zenit): Aus der Legende der Entwicklungskurve zur griechischen Kunst: Der Entwicklungsverlauf der griechischen Kunst läßt sich darstellen in Form einer Kurve, vergleichbar einem Wasserstrahl, der straff aufsteigt, am höchsten Punkt kurz in der Schwebe bleibt und dann, sich auflösend, niederfällt. Diesen drei Phasen entsprechen die drei Abschnitte der Entwicklung. (Als Beispiele aus der Plastik fungieren am Scheitel der Doryphoros des Polyklet und eine Kore vom Erechtheion der Akropolis in Athen — und am ›Niedergang‹ die Laokoongruppe.)
Literaturhinweise: Hans Blumenberg, Paradigmen zu einer Metaphorologie, Bonn: Bouvier 1960. Alexander Demandt, Metaphern für Geschichte, München: Beck 1978 Daniel Rosenberg / Anthony Grafton, Cartographies of Time: A History of the Timeline, Princeton Architectural Press 2010. |
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Beispiele von Modell-für-X••• In der Bibel (1.Moses 6,13ff.) befiehlt Gott dem Noah, bevor er die Sintflut über die Erde kommen lässt: Baue dir eine Arche aus Tannenholz; mit lauter Kammern sollst du die Arche versehen und sie von innen und von außen mit Erdharz verpichen. Und so sollst du sie bauen: dreihundert Ellen soll die Länge der Arche betragen, fünfzig Ellen ihre Breite und dreißig Ellen ihre Höhe. Eine Luke sollst du an der Arche anbringen, und zwar eine Elle hoch sollst du sie ganz herum hoch oben herstellen, und den Eingang zur Arche an ihrer Seite anbringen und ein unteres, ein mittleres und ein oberes Stockwerk in ihr anlegen.
••• Vergil erwähnt (Aeneis, II,15f.), dass die Griechen mit der göttlichen Kunst von Athene das hölzerne Pferd bauen, das sie dann als Täuschungsmanöver gegen Troja einsetzen: equum divina Palladis arte aedificant. Im Hintergrund steht eine Anspielung in Homers Odyssee: des hölzernen Rosses Erfindung, Welches Epeios baute mit Hilfe der Pallas Athene (8. Gesang, Vers 493 ff.) — Pallas Athene / Minerva ist u.a. auch die Beschützerin der Kriegskunst. Auf dem Bild bietet Athene den Griechen das Modell dieses Pferdes dar, einige Arbeiter beginnen schon mit der Umsetzung:
••• Bastelanleitungen sind der Tummelplatz von Modellen-für:
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Umkippen in SpielereiEs verwundert nicht, dass Modelle in populärwissenschaftlichem Schrifttum gerne verwendet werden. Dabei werden die Analogien gelegentlich strapaziert. Der Darm wird als Rutschbahn modelliert. Die durch schwer verdauliche Mahlzeiten belasteten respektive bei Vollkornkost fröhlichen Darmzwerge sind wohl kein Modell im eigentlichen Sinne mehr.
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Online gestellt im August 2016; kleine Revision September 2019 — PM |
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