Visualisierung von Wissen: Otto Neurath

     
 

Rebekka Stutz

Otto Neurath (1882–1945)

»Wer einen schnellen und bleibenden Eindruck machen will,
bedient sich der Bilder.« (Otto Neurath 1933) (1)

Inhaltsübersicht

Bibliographie

1. Einführung >>>

2. Die drei Innovationen >>>

3. Merkbilder im Dienst der Gesellschaft

3.1. Inhalt und Räumlichkeiten >>>

3.2. Veranschaulichungsmittel >>>

3.3. Einheitlichkeit als oberstes gestalterisches Prinzip >>>

3.4. Herstellungsschritte >>>

3.5. Qualifizierte Kräfte als Mitarbeiter >>>

4. Von den Fakten zum Bild – Umsetzungsschritte

4.1. Transformation >>>

4.2. Bildstatistische Mengenbilder >>>

4.3. Sprechende Signaturen >>>

4.4. Sprechende Farbe >>>

4.5 Sprechender Hintergrund >>>

4.6. Bildsprache >>>

5. Ausblick auf das Zeitalter des Auges >>>

 

1 Zitiert nach Frank Hartmann / Erwin K. Bauer, Bildersprache. Otto Neurath, Visualisierungen, Wien: WUV-Univ.-Verlag 2002, S. 14.

 
     
 

Bibliographie

<1> Otto Neurath, Gesellschaft und Wirtschaft. Bildstatistisches Elementarwerk, Leipzig 1930. zum Download [www archplus.net; PDF 14,6 Mega]

<2> ISOTYPE, International picture language, by Otto Neurath. The first rules of isotype with isotype pictures, London: Kegan Paul / Trench / Trubner 1936 (Psyche miniatures. General series; no. 83).

<3> Otto Neurath, Gesammelte bildpädagogische Schriften, Hrsg. von Rudolf Haller und Robin Kinross, Wien: Hölder-Pichler-Tempsky 1991.

<4> Marie Neurath & Robin Kinross, The transformer. Principles of making isotype charts, London: Hyphen Press 2009.

<5> Otto Neurath, From Hieroglyphics to Isotype: A Visual Autobiography, edited by Matthew Eve / Christopher Burke, London: Hyphen Press 2010.

<6> Gerd Arntz, Zeit unterm Messer. Holz- & Linolschnitte 1920–1970, Köln: Informationpresse Leske 1988.

<7> Friedrich Stadler (Hg.), Arbeiterbildung in der Zwischenkriegszeit: Otto Neurath – Gerd Arntz, Wien: Löcker-Verlag 1982. [Bibliographie der Veröffentlichungen von Neurath auf S. 239–245]

(Weitere Literatur wird im Text ad hoc erwähnt.)

Vgl. http://www.stroom.nl/media/BibliografieNeurath.pdf [12.07.2014]

Vgl. http://plato.stanford.edu/entries/neurath/ [13.01.2012].

Vgl. http://www.gerdarntz.org/content/gerd-arntz [13.01.2012].

Bildrechte. Die Bilder von Neurath / Arntz sind ubiquitär abgedruckt und erscheinen da und dort im Web. Das Österreichische Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien erlaubt uns alle im GeWiMu / im Atlas »Gesellschaft und Wirtschaft« <1>erschienen Bilder zu reproduzieren. – Der Verlag Hölder-Pichler-Tempsky in Wien hat sich umdefiniert als reiner Schulbuchverlag; © ist in Abklärung. – Noch unklar sind die Rechte der Universität Reading, wo ein Teil seines Nachlasses liegt. – Es soll festgehalten sein, dass diese Webseite keinen kommerziellen Zweck hat, sondern einzig einen wissenschaftlichen.

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1. Einführung

In der visuellen Autobiographie From Hieroglyphics to Isotype (2) beschreibt Otto Neurath seinen Umgang mit Bildmaterial beginnend in seiner Kindheit bis zu seiner beruflichen Auseinandersetzung mit Bildstatistiken, sprechenden Signaturen und didaktisch aufbereiteten Bildtafeln für diverse kulturelle Institutionen. Neurath beschreibt sich selbst in dieser letzten seiner bildpädagogischen Schrift als einen äusserst genauen Beobachter, Sammler, Systematiker und wissbegierigen Menschen. Er stellt unter anderem auch seine im Kollektiv Ende der 1920er Jahre entwickelte Verfahrensweise, die »Wiener Methode«, die später auch »Isotype« genannt wird, (3) konzentriert vor und bindet sie an ältere Traditionen der bildhaften Informationsvermittlung an. (4) In zahlreichen wissenschaftlichen und journalistischen Artikeln widmete sich Neurath schon vor seiner Autobiographie der Wissensvermittlung mit Bildern – der Bildpädagogik – und deren Zweck für die Gesellschaft und für Museen. (5)

2 Neuraths Autobiographie wurde posthum herausgegeben. Er arbeitete daran von 1943 bis 1945. Otto Neurath war sowohl Nationalökonom, Wirtschaftsphilosoph als auch Soziologe. Für eine ausführliche Biographie und Bibliographie Neuraths: Jordi Cat, Otto Neurath, 2010. Online http://plato.stanford.edu/entries/neurath/ [13. 01.2012].

3 Erst nach seiner Emigration aus Österreich nach Den Haag und später Oxford wird die Wiener Methode »Isotype« [International System of Typographic Picture Education] genannt. 1926 bringt Neurath die Bezeichnung in einem Aufsatz selbst ins Spiel: »Es ist das hier Dargelegte von freundlich gesinnten Kritikern gelegentlich als ›Wiener Methode‹ bezeichnet worden.» Er übt sich kurz darauf in Bescheidenheit und ist um eine historische Einbindung bemüht: »Damit ist zu viel gesagt, wenn es bedeuten soll, dass das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum eine neue Methode vorschlägt. Fast alles, was oben erwähnt wurde, ist bald da, bald dort bereits ausgeführt worden, manches uralt, findet sich schon bei den Ägyptern, wohl aber ist die Arbeitsgemeinschaft, die in diesem Museum seit langem zusammenarbeitet, entschlossen, eine bis ins einzelne durchgearbeitete Systematik bildlicher musealer Darstellung zu schaffen – eine erlernbare Methode.« (Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände, (1926), in <3>, S. 61f.)

4 »Die Isotype-Arbeit kann in zwei geschichtliche Traditionen eingereiht werden: Die eine ist die Entwicklung der graphischen Darstellung von Statistiken, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann und im 19. Jahrhundert erstmals zur Blüte gelangte; andere Ursprünge wurzeln in der uralten Tradition, Informationen aller Art für praktische, pädagogische Zwecke durch Bilder, Diagramme, Landkarten und andere visuelle Behelfe zu übermitteln. Diese Tradition reicht weit zurück in die Menschheitsgeschichte und erstreckt sich über beinahe alle Kulturen. Neurath selbst erkannte die zeitlose Perspektive dieser menschlichen Kommunikation, was aus seiner ›visuellen Autobiographie‹ […] hervorgeht.« (Robin Kinross, Einleitung zu den Gesammelten bildpädagogischen Schriften <3>, S. XV)

5 1991 gaben Rudolf Haller und Robin Kinross alle bildpädagogischen Schriften Neuraths <3> heraus.

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Aus diesen Aufsätzen zu bildpädagogischen Fragen geht hervor, dass die Anfänge seiner didaktischen Tätigkeit durch Abgrenzung oder durch strenge Systematisierung von herkömmlichen und in den 1920er Jahren verwendeten Darstellungsmethoden definiert ist. Neurath hatte in den darauffolgenden Jahren nicht nur Vorbildcharakter für die Museumspädagogik, sondern er hat auch die Entwicklung der Informationsgraphik, enger die Bildstatistik massgeblich beeinflusst und gilt heute als Pionier in der Geschichte des Piktogramms. In der folgenden Analyse der neurathschen bildpädagogischen Schriften stehen folgende Fragen und daraus resultierende Annahmen im Zentrum:

Welche Mittel werden eingesetzt um mnemotechnische Bilder zu gestalten? Die didaktischen Bilder basieren auf einer systematischen Herangehensweise, die schon bei der Interpretation des in ein Bild zu transformierenden Inhalts beginnt und auch bei der Umsetzung zu finden ist. Die entwickelte Systematik basiert auf der Grundlage, dass geometrische Grundformen durch sprechende Zeichen ersetzt werden und dadurch leichter merkbar sind.

Wie kann und warum soll das kreative Potential gebannt werden? Streng analytischer und systematischer Zugang bindet oder bannt das kreative Potential, und das Bild funktioniert dadurch primär didaktisch und nicht ästhetisch.

Bei der Lektüre der bildpädagogischen Schriften Neuraths sind Unstimmigkeiten beobachtet worden. Die benutzte Begrifflichkeit ist in relevanten Bereichen divergierend. Von Neurath werden für die von ihm entwickelten Figuren sowohl »Symbol«, »Signatur«, »sprechendes Zeichen« oder ähnliche Begriffe verwendet. Das liegt wohl daran, dass Neurath keine Zeichentheorie entwickelt, sondern sich der Bildpädagogik gewidmet hat. Sein oberstes Prinzip bei der Arbeit ist nämlich: eine Bild muss didaktisch sein. Es interessiert ihn nicht ob es sich beispielsweise, mit der Einteilung von Peirce gesprochen, um ein Zeichen, Icon oder Index handelt. Im Folgenden wird konsequent von »Signaturen« gesprochen werden, weil laut Gerd Arntz im Team Neuraths die entwickelten Symbole, später Piktogramme genannt, so bezeichnet wurden wurden. (6)

Das Ziel dieses Aufsatzes ist es darzulegen, wie die bildstatistische Bildentwicklung und Bildherstellung laut Neurath ablaufen sollte und welche gestalterischen Ebenen – z.B. Farbe, Form und Zeichen – sie betrifft. (7)

Viele von Neuraths Entwicklungen sind bis heute nicht mehr aus Infographiken oder Leitsystemen für öffentliche Gebäude wegzudenken und gelten als allgemein verständlich. Der Schwerpunkt soll darum auf den innovativen Leistungen der Wiener Methode und deren wegweisenden Bedeutung für die spätere Infographik, Typographie und andere Bereiche von Design und Graphik liegen.

6 Gerd Arntz, Zeit unterm Messer. Holz- & Linolschnitte 1920–1970, Köln: Informationpresse Leske 1988, S. 24.

7 Die innere Entwicklung der Methode Neuraths wird hier nicht betrachtet.

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2. Die drei Innovationen

Die Arbeit Neuraths besteht in drei wichtige Errungenschaften.

• Transformation und Bildstatistik mit Signaturen:

Bei der Transformation werden wissenschaftliche und teilweise abstrakte Erkenntnisse in konkrete und relevante Aussagen umgewandelt. In Zentrum stehen jedoch nicht naturwissenschaftliche Erkenntnisse, sondern gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Prozesse. Es werden also abstrakte Zahlen und Mengen als allgemeine und einfach verständliche Inhalte in Bildtafeln zusammengefasst, dargestellt und ›lebendig gemacht‹. (8)

• Bildsprache und die Methode Isotype:

Neurath und sein Team entwickelten eine graphische Darstellungsmethode sowie deren Ausweitung und Systematisierung zu einer Bildsprache mit universellem Anspruch. Eine Sammlung von 2’000 Bildzeichen diente als Grundalphabet. Die dafür entworfenen Signaturen gelten als Vorläufer der Piktogramme.

• Vermittlung im Museum:

Sowohl die Bildstatistiken als auch die Bildsprache trugen in ihrer praktischen und logischen Anwendung als Bildtafeln zu Ausstellungen in einem neuen Museumstypen bei: dem »Sozialen Museum«. Es wurde als Ort für gesellschaftliche Weiterbildung und als Anstoss zu Veränderungen der Lebensbedingungen der Arbeiterschicht aufgefasst. Das Museum soll ein Ort für Bürger aller Bildungsstufen und des visuellen Lernens sein.

Alle Teilschritte von erhobenen Daten bis zur Bildtafel (9) stehen im inhaltlichen Dienste der Verbesserung von Lebensumständen für eine breite Gesellschaftsschicht mittels Vermittlung von Wissen und Zusammenhängen für Laien, also der Aufklärung der Masse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Dieses gesellschaftliche Ziel kann jedoch nur erreicht werden durch eine einfache und rein funktionale Bildsprache.

Man würde Neurath unrecht tun, wenn man seine Errungenschaften nur als zeithistorische oder gar marxistische Erscheinung abtun würde. (10) Neurath und seine Methode sollen hier nicht unter wissenschaftsgeschichtlichem oder politischem Standpunkt diskutiert, sondern als revolutionäre gestalterische Prinzipien im Bereich der Visualisierung von Wissen betrachtet werden. Im Vordergrund stehen darum die ästhetischen und praktischen Seiten von Neuraths Bildpädagogik und nicht die damaligen musealen oder wissenschaftlichen Tendenzen wie beispielsweise die Bemühungen um die Bildung einer Universalwissenschaft oder die sozialpolitischen Entwicklungen im ›Roten Wien‹. (11)

8 »Es sollen im ›Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum‹ soziale Erscheinungen durch Symbole erfasst werden, leicht überblickbare Anordnungen von Linien, Flächen, Körpern sollen gesellschaftliche Zusammenhänge darstellen. Statistisch erfassbare Tatbestände sollen lebendig gemacht werden.« Gesammelte bildpädagogische Schriften <3>, S. 18.

9 Die Bildtafeln wurden ursprünglich für Museen entworfen, die Methode wurde aber auch für Buchillustrationen angewendet und sie wirkt bis heute auf Infografiken in Zeitungen oder Magazinen nach.

10 Dass die entwickelte Methode sehr eng mit der wissenschaftlichen Weltanschauung in Wien (›Austromarxismus‹) zusammenhängt ist eine Tatsache. Zum ausschlaggebenden Ansporn für sein Arbeiterbildungskonzept, von dem die Bildstatistik und dann umfassender die Bildpädagogik ein integraler Bestandteil ist, vgl. Karl-Heinz Braun und Konstanze Wetzel. Sozialreportage. Einführung in eine Handlungs- und Forschungsmethode der Sozialen Arbeit, 2010, S. 218ff.

11 Wie wichtig die sozialstaatliche Raum- und Familienpolitik für die Entwicklung der Wiener Methode war, beschreiben Braun / Wetzel (wie Anm. 10), S. 192–232.

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3. Merkbilder im Dienst der Gesellschaft

3. 1. Inhalt und Räumlichkeiten

Neuraths bild– und museumspädagogischer Anfang hängt mit dem am 1. Januar 1925 gegründeten Gesellschafts– und Wirtschaftsmuseum (12), heute das Österreichische Gesellschafts– und Wirtschaftsmuseum, in Wien zusammen. (13) Bis 1934 konnten Neurath und sein Team dort wirken und entwickelten systematisch Bildtafeln zu Ausstellungszwecken in den öffentlichen Räumen des Museums. (14)

Die Räumlichkeiten in Wien waren allen frei zugänglich und sollten daher zu didaktischen Zwecken genutzt werden. Ungewöhnlich für die damalige Zeit war, dass nicht naturwissenschaftliche Erkenntnisse vermittelt oder ›nur‹ hygienische Aufklärung betrieben wurde, sondern auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Prozesse wie die Siedlungspolitik ans Tageslicht kommen sollten. (15) Ein vornehmlich statistischer und soziologischer Blickwinkel auf gesellschaftliche Phänomene hob diese aus der Privatheit heraus und liess sie als national wichtig erscheinen. Mit folgendem Vergleich beschreibt Neurath sein inhaltliches Ziel einfach und prägnant:

»Wer eine technische Errungenschaft berücksichtigt, so handelt es sich darum zu zeigen, in welchem Umfang sie zur Anwendung kommt! Nicht die Konstruktion des Radioapparats interessiert, sondern die Zahl der in Verwendung stehenden Radioapparate, weil so die Lebenslage der Menschen näher bekannt wird!« (16)

Die nicht technischen und naturwissenschaftlichen Inhalte forderten auch neue Darstellungskonzepte. Neurath trat aber an diese Aufgabe trotzdem wissenschaftlich analytisch heran und versuchte mit System die didaktische Seite von Bildern gezielt zu fördern. Dabei berücksichtigte er stark die Betrachterseite und visuelle Vorgänge.

12 Als Generalsekretär des Österreichischen Verbands für Siedlungs- und Kleingartenwesen organisierte Neurath ab 1920 sogenannte volksbildende Ausstellungen. Daraus entstand 1924 das Museum für Siedlung und Städtebau, das 1925 erweitert und in Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum umbenannt wurde.

13 S. Nikolow beschreibt, dass zur selben Zeit Museen entstanden seien, die jeweils eine bestimmte Veranschaulichungsmethode gefördert haben: »In der Folge entstanden drei Museen: das Dresdener Hygiene-Museum (1912 gegründet, 1930 mit Gebäude), das Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde in Düsseldorf (1927 im Anschluß an die GeSoLei) und schließlich das aus einen Museum für Siedlung und Städtebau 1925 hervorgegangene Neurathsche Wiener Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Alle drei Museen verstanden sich als Vertreter eines neuen Typs des Wissenschaftsmuseums: Sie hatten gegenwartsbezogene Themenschwerpunkte (Dresden: Mensch und Gesundheit, Düsseldorf und Wien: Wirtschaft und Gesellschaft) und nutzten modernste Veranschaulichungsmethoden (Dresden: zunächst die sogenannten Spalteholzpräparate, dann ab 1930 den Gläsernen Menschen; Düsseldorf: bewegliche Modelle, Wien: Bildstatistik).« Sybilla Nikolow, Kurven, Diagramme, Zahlen- und Mengenbilder. Die Wiener Methode der Bildstatistik als statistische Bildform, in Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik 3, 1, hrsg. von Birgit Schneider (2005), S. 20–53.

14 Infolge Neuraths politischem Engagement im Roten Wien der Zwischenkriegszeit mussten er und seine Mitarbeiter im Jahre 1934 nach Den Haag emigrieren, wo sie schon 1932 das Mundaneum Institut und die International Foundation for Visual Education gegründet hatten. Die Wiener Methode wurde in Isotype umbenannt, weiter entwickelt und trat 1936 mit dem von Neurath publizierten Werk International Picture Language ihren Siegeszug in die USA an. Nach der Invasion der Niederlande 1940 flüchtete Neurath mit seiner Frau nach Grossbritannien. An der Universität Oxford gründete er das Isotype-Institute.

15 Das Museum hatte drei Abteilungen: Arbeit und Organisation, Sozialhygiene, Siedlung und Städtebau. Neurath hält zu den musealen Aufgaben fest: »Die moderne Demokratie verlangt, dass breite Massen der Bevölkerung sachlich über Produktion, Auswanderung, Säuglingssterblichkeit, Warenhandel, Arbeitslosigkeit, […], Bedeutung des Sports, […] Gartenstädte […] unterrichtet werden. Schulunterricht kann nur die Grundlagen hierfür liefern […]; notwendig ist eine Stelle, die dauernd soziale Aufklärung verbreitet. Diesem Zweck dienen die Sozialmuseen […].« Aufgabe des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien (1926), in <3>, S. 56.

16 Die Tätigkeit des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums in Wien (1926), in <3>, S. 36.

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3.2. Veranschaulichungsmittel

Viel Inspiration erhielt Neurath aus aktuellen Medien wie der Photographie, der Reklametafel und dem Film. In den konzipierten Ausstellungen wurden diese auch eingebunden als grossflächige, aber immer gleichgrosse Bildtafeln, mit der Aufführung von Trick- bzw. Zeichenfilmen oder mit den Leuchttafeln, die reliefartig aufgebaut werden konnten. Die farbigen Leuchttafeln wurden von hinten beleuchtet und ermöglichten eine Art Diashow mit wechselnden Folien. (17) Zusätzlich entwickelte Neurath für das Museum und den Schulbetrieb die Magnettafel. Meist handelte es sich bei dem auf die Eisenunterlage aufgezeichneten Hintergrund um eine geographische Karte. (18) Magnetische Signaturen konnten darauf verschoben und immer wieder neue gesetzt, ihre Menge vermehrt, verringert und durch andere ersetzt werden. Das Ganze wurde sogar farblich ausgestaltet. (19)

Die beiden zentralen bildpädagogischen Ausdrucksformen in diesem musealen Umfeld waren das Sach- und das Mengenbild. Das Sachbild zeigt einen Tatbestand allgemeinverständlich auf und soll so gestaltet sein, dass es im Sinne einer pädagogischen Aufklärung mit anderen Ausstellungstafeln, Photos usw. interagieren, aber nicht die alleinige Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich zieht. (20) Um dies zu erreichen werden die Signaturen zu schematischen Abbildungen zusammengesetzt. Die Sachbilder sind immer schon als Merkbilder angelegt: Sie können daher einen auf den ersten Blick verwendbaren Eindruck vermitteln, die Details dagegen erst bei genauerem Zusehen offenbaren. Diese stufenweise Gliederung zielt darauf ab, dass man das, was logisch nacheinander darlegen will, optisch nacheinander erfassbar wird. (21) Der gezeigte Gegenstand oder Umstand muss dem Betrachter in Erinnerung bleiben und soll ihm Relationen aufzeigen, begreiflich machen und in grössere Zusammenhänge setzen. Das Mengenbild ist wie das Sachbild ebenfalls ein Merkbild, jedoch mit statistischem Inhalt. Mengenbilder vermitteln folglich Zahlen auf einfache und bildhafte Weise.

17 Neurath beschreibt das Verfahren selbst folgendermassen: »Verschiedene Reklametechniken wurden in den Dienst der Veranschaulichung gestellt. Auf einer Leuchttafel, auf der das Bild auf Glas eingetragen und von rückwärts beleuchtet ist, kann man Schemata auf einer Ebene eintragen und nacheinander – begleitet von einem Vortrag – zahlreiche Bildstatistiken in dem Netzwerk der Waagrechten und Senkrechten farbenglühend erscheinen lassen.« Bildstatistik (1927), in <3> S. 104.

18 Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum auf der internationalen Städtebauausstellung in Wien, (1926), in <3>, S. 63ff.

19 Bildstatistik. Führer durch die Ausstellungen … (1927), in <3>, S. 104.

20 In der Werbung funktioniert das Bild genau umgekehrt – es soll die ungeteilte Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen.

21 Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule (1933), in <3>, S. 270.

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3.3. Einheitlichkeit als oberstes gestalterisches Prinzip

Diese beiden Bildtafeltypen waren aus pädagogischen Gründen ästhetisch einheitlich gestaltet – alle waren beispielsweise gleich gross, hatten denselben Rahmen, die gleiche Schrift usw. – weil man festgestellt hatte, dass die Einheitlichkeit der Beschriftung und andere ›Kleinigkeiten‹ die Fasslichkeit der Tafel erhöhen. (22) Um diese Einheitlichkeit zu didaktischen Zwecken zu erreichen, mussten alle Tafeln dasselbe Herstellungsverfahren durchlaufen. (23)

22 Bildstatistische Hieroglyphen, (1926), in <3>, S. 49.

23 Vgl. Kinross in Bildpädagogische Schriften <3>, S. XII.

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3.4. Herstellungsschritte

Den prototypischen Ablauf bei der Herstellung einer Bildtafel muss man sich folgendermassen vorstellen:

  • Zunächst wurde Material zu einem entsprechenden Ausstellungsschwerpunkt gesammelt. Es handelte sich dabei um wissenschaftliche Erhebungen, Daten und Fakten aus der Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.

  • In einem zweiten Schritt wurde aus dem Material die wichtigste Information herausgeschält und diese in einem Entwurf bildhaft veranschaulicht.

  • Einen wichtigen Teil bei der Konzeption der Bildtafeln nahm dann die Gestaltung der zu verwendenden Signaturen und anderen Bildelementen ein.

  • Im letzten Schritt wurden die Signaturen auf den Tafeln angeordnet und aufgeklebt (oder gedruckt).

Neuraths systematischen Herangehensweise konnte sowohl in der Herstellung von Sach- oder Mengen- bzw. Merkbildern umgesetzt werden. Überarbeitung – ständige Verbesserungen Neurath über- und bearbeitet seine Tafeln stetig. Er liess es nicht einfach bei der einmaligen Entwicklung bewenden, sondern führte selbst Tests mit Schulkindern (24) durch oder liess sich durch die Museumsbesucher Feedbacks geben, die gegebenenfalls zu Anpassungen führten.

Ein Beispiel: Bei der Gegenüberstellung von Geburten und Sterbefällen wurde bei Führungen die Beobachtung gemacht wurde, dass einzelne Besucher meinten, es handle sich um eine Gegenüberstellung der Geburten und der Kindersterblichkeiten (erstes Bild). Dieses Missverständnis ist durchaus naheliegend, weil die Särge dieselbe Grösse haben wie die Kinder. Die Signatur ›Sarg‹ wurde dann in einen ›Grabstein‹ geändert (zweites Bild).

Bild oben aus <3>, S. 54; unten aus <3>, S. 55.

An diesem Beispiel ist erkennbar, dass die Signaturen äusserst präzise gewählt sein mussten und ihre Anordnung als auch formale Ausprägung nicht beliebig sein durfte. (25)

Die Überarbeitung, stetige Veränderung und Dokumentation der definitiven Signaturen und Bildtafeln nahm somit eine grosse Rolle in der Arbeit Neuraths und seines Teams ein, denn »Nichts ist gefährlicher als ein Zeichen, das manchen Besuchern mehr sagt, als man in Wirklichkeit ausdrücken wollte.« (26)

24 »Im Gang der pädagogischen Arbeit hatte sich einerseits gezeigt, dass das visuelle Lernen für alle Bildungsstufen von Bedeutung ist, und so gab es dann von Seiten des Museums auch eine intensive Zusammenarbeit mit Kindergärten und Schulen (durch Vorträge, Fortbildungen und Modellprojekte), und zwar besonders mit solchen, die sich an der Montessori-Pädagogik ausgerichtet hatten.« Karl-Heinz Braun / Konstanze Wetzel. Sozialreportage. Einführung in eine Handlungs- und Forschungsmethode der Sozialen Arbeit, 2010, S. 226.

25 Schwarzweissgraphik (1926), in: Bildpädagogische Schriften <3>, S. 51–55. Die Signatur ›Säugling‹ ist im zweiten Bild jedoch schlechter identifizierbar.

26 Schwarzweissgraphik, in: Bildpädagogische Schriften <3>, S. 55.

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3.5. Qualifizierte Kräfte als Mitarbeiter

Die stetige Entwicklungsarbeit ohne ein Team aus professionellen Kräften verschiedenster Berufsgattungen wäre nie denkbar gewesen. Neurath hält fest, dass trotz seiner immer gleichen Ansätze und strengen Prinzipien ein grosser Spielraum in der Umsetzung gegeben bleibt. Genau in diesen wohl abgesteckten aber nicht bis ins Letzte durchgeplanten Zwischenräumen komme die Fähigkeit eines »entwerfenden Zeichners« oder die »Kunst der Pädagogik« zum Zuge. (27)

Immer wieder vergleicht Neurath seine Arbeit mit der der Herstellung von Plakaten. Ihn fasziniert daran einerseits, dass die Plakate für ein breites Publikum hergestellt und von vielen verstanden wurden, andererseits, dass das Plakat eine Einheitsgrösse hatte und die Bildsprache den Regeln des Verkaufs oder der Werbung unterworfen war. Trotzdem lässt dieses Genre wie die Bildpädagogik viel Raum für Kreativität, weil eine allzu strenge Systematik weder für den ›Eyecatcher‹ Plakat noch für das Merkbild im Museum förderlich ist. (28)

Am erfolgreichsten konnte eine Arbeitsgruppe die anspruchsvollen Bildtafeln umsetzten. Für das Auswerten, Abrunden, Auswählen von Daten, bis für das Formulieren der didaktischen Ziele, für den malerischen Entwurf bis zu den Ausschneidearbeiten und Anordnungen auf Tafeln wurden verschiedene Mitarbeiter je nach ihren Fähigkeiten eingesetzt. Zu den wohl stilprägendsten Mitarbeitern in der Arbeitsgemeinschaft zählte der Graphiker Gerd Arntz. (29) Für die Arbeitsweise des Teams war es wichtig, dass alle aufeinander eingespielt waren um die Inhalte so einheitlich wie möglich umzusetzen.

27 Statistische Hieroglyphen, in: <3>, S. 49.

28 Neurath meint: »Eine rezeptartige Formulierung ist ebensowenig möglich wie etwa die für die Anfertigung von Plakaten.« Statistische Hieroglyphen, in <3>, S. 49.

29 Siehe die Ausführungen in Kap. 4.3.: Der Stil von Gerd Arntz.

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4. Von den Fakten zum Bild – Umsetzungsschritte

4.1. Transformation

Die Transformation des gesammelten wissenschaftlichen Materials in eine bildhafte und anschauliche Form kann als Hauptteil der Arbeit Neuraths angesehen werden. Hinter dieser gestalterischen Leistung steht eine konsequente und systematische Umwandlungsarbeit vom Medium Schrift ins Medium Bild. Bei der Wiener Methode wird Wissen in Form von Daten, Fakten, wissenschaftlichen Erhebungen, Aufsätzen – generell gesagt von abstrakten Inhalten – in ein leicht und auf einen Blick verständliches Bild umgewandelt oder in gewisser Weise übersetzt. Anstatt der Improvisation wird eine Methode angewendet. (30)

• Im Dienst einer Erweiterung des Bildungshorizonts

Das Gesellschafts– und Wirtschaftsmuseum war eben erst ins Leben gerufen worden um der breiten Bevölkerung die alltäglichen Veränderungen näher zu bringen. Dazu gehörten statistische Erhebungen zu den Tuberkulosefällen, der Entwicklung des Agrarmenschen zu einem Industriemenschen oder auch die Bevölkerungsdichte im alten Rom im Gegensatz zu aktuelle Bevölkerungsdichte in Grossstädten. Soziologische, historische als auch wirtschaftliche Thematiken wurden in Ausstellungen auf Bildtafeln, auch Charts genannt, gebannt. Dabei soll dem Betrachter, in Neuraths Augen der Laie, die Beurteilung und Evaluation der dargestellten Zustände überlassen werden. (31)

Neurath wollte dem Betrachter die Möglichkeit geben, Prozesse und Zusammenhänge zu erkennen, Vergleiche zwischen den Bildtafeln zu machen und dadurch den eigenen Bildungshorizont zu erweitern oder mit praktischem und hilfreichem Wissen anzureichern. Der Betrachter sollte selbst interpretieren, wobei mit der Transformation von Fakten in Bilder die Information ohne Texte kritisch aufbereitet wird. Bei der Transformation werden jedoch keine Wertungen vorgenommen, sondern es soll nach rein objektiven Gesichtspunkten das Darzustellende ausgewählt, zusammengestellt und kombiniert werden.

31 Vgl. From hieroglyphics to Isotype <5>, S. 7.

• Statistik

Zu einem Thema muss zu Beginn geeignetes, sinnvolles und ausstellbares Datenmaterial ausgewählt und zusammengestellt werden. Diese Daten müssen in einer Bildstatistik durch Schätzungen ergänzt oder ausgefüllt werden, da jede statistische Datenerhebung Lücken aufweist. Zusätzlich lassen sich nicht alle Details in eine Bildtafel übertragen, und daher werden kleine Gebiete mit anderen zusammengefasst, d.h. grössere Gruppen von Daten nach geographischen oder inhaltlichen Gesichtspunkten gebildet. (32) Beispielsweise wurden Stadtbezirke oder Länder zu grösseren Mengen zusammengefasst um allgemeine Tendenzen klarer darstellen zu können oder gewisse Dinge weggelassen – also eine Auswahl getroffen. Es sollen jedoch keine langweiligen Zahlenreihen abgebildet, sondern Periodizität, Schwankungen usw. aufgezeigt werden. (33)

32 Vgl. Gesellschaft und Wirtschaft (1930) <1>, S. 102.

33 Absolute Mengen eignen sich dafür nicht: »Wo relative Zahlen besonders interessant und wichtig sind, werden sie tunlichst in Verbindung mit den absoluten Zahlen vorgeführt. Würde man zum Beispiel die Bevölkerungsdichte der verschiedenen europäischen Länder aufzeichnen, so würde Belgien an erster Stelle stehen. Die Bedeutung dieser Tatsache wird aber erst klar, wenn man die absolute Grösse von Belgien kennt.« Statistische Hieroglyphen, (1926), in <3>, S. 49.

• Runden

Bei der didaktischen Aufbereitung von Daten muss der Transformator Zahlenreihen so umwandeln, dass sie ›lebendig‹ werden und die Verhältnisse trotzdem richtig bleiben. Erste Hürden bei dieser Arbeit zeigen sich schon beim Rundungsverfahren: Wenn man beispielsweise den konstanten Abfall der Reihe 51, 46, 41, 36, 31, 26 auf die Zehner abrundet, ergibt sich die Reihe 5, 4, 4, 3, 3, 2. Neurath schlägt bei diesem einfachen Beispiel vor: Im vorliegenden Fall wird der Transformator, um anzudeuten, dass es sich um eine dauernd gleichmässig abfallende Menge handelt, jedes zweite Glied wählen und im Mengenbild 5, 4, 3 zeigen. Die Reihe entspricht ausreichend der ersten sechsgliedrigen. (34)

Schwieriger wird es, wenn mehrere Zahlenreihen zueinander in Bezug gesetzt werden. Je nach Fall muss eine andere Lösung gefunden werden. Zusätzlich war es für den Transformator schwierig, dass nicht nur Zahlenreihen auf einer Bildtafel aufeinander abgestimmt sein mussten, sondern alle oder zumindest mehrere Tafeln einer Ausstellung miteinander verglichen werden sollten. Jahressprünge oder Zusammenfassungen müssen dann auf allen Tafeln immer dieselben Abstände haben, damit man charakteristische statistische »Physiognomien« erhält. (35)

34 Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule, (1933), in <3>, S. 285.

35 Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule, S. 289.

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4.2. Bildstatistische Mengenbilder

Hat der Transformator einmal die Daten ausgewertet und ausgewählt, beginnt er parallel mit dem Graphiker zu arbeiten, um von Beginn weg einen Entwurf eines ansprechenden Bilds zu kreieren. Dies hängt wohl auch damit zusammen, dass Mengenbilder nie so exakt sein können wie Zahlen, da oft mit Schätzungen oder ähnlichen Varianten gearbeitet werden muss. Zur Hervorhebung gewisser Unterschiede in den Datenmengen braucht es nicht nur statistische Kunstgriffe, sondern auch gestalterische. Sie ermöglichen oft eine bildhafte Fokussierung auf die Veränderung, wenn grosse Unterschiede gezeigt werden sollen. Darum wurde schon sehr früh mit den Graphikern zusammengearbeitet. (36)

36 Einige wenige Skizzen einer frühen Zusammenarbeit mit Marie Neurath sind erhalten; ein Bild ist online einsehbar unter http://isotyperevisited.org/2009/09/sketch-directindirect-elections.html [13.8.14]

• Didaktisch und leicht merkbar

Nur eine in sich stimmige Tafel mit konsistenter und sauberer Ausführung ist didaktisch und memorierbar. Skizzen eignen sich dafür nicht, weil sie keinen bleibenden Eindruck hinterlassen. Dazu kommt noch, dass skizzenhafte Entwürfe sich dem Gedächtnis schlecht einprägen; exakte Tafeln mit satten, sorgsam gegeneinander abgestimmten Farben verfehlen selten ihre Wirkung. (37) Weiter glaubte Neurath, dass viele Menschen von Tabellen und Kurven abgeschreckt seien und diese Darstellungsmethode als einer kleinen Gruppe von Wissenschaftlern vorbehalten ansahen. (38) Der Graphiker war nun dafür verantwortlich, dass die auf wissenschaftlichen Daten beruhenden Mengenbilder ansprechend und nicht abschreckend gestaltet waren. Zum Erfolg einer Tafel trugen sowohl Form, Farbe als auch Anordnung bei.

Neurath lehnt einen malerischen Stil aus folgenden Gründen ab: Malerische Komposition mit Einfügung von Quantitäten in geschlossenen Flächen prägt sich dem Gedächtnis schlecht ein und kommt daher nicht in Frage. (39) Er spricht sich streng gegen skizzenhafte, malerische oder stark detaillierte Ausgestaltung von Tafeln aus; generell gegen alles, was die Aufmerksamkeit zu stark vom Inhalt ablenken könnte und zu ›künstlerisch‹ wirkt.

37 Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum auf der internationalen Städtebauausstellung in Wien, (1926), in <3>, S. 69.

38 Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände, (1927), in <3>, S. 122.

39 Das Sachbild, (1930), in <3>, S. 166.

• Inspiration und Herkunft der Ideen

Beim Nucleus der neurathschen Arbeit – der Bildstatistik – inspirierte sich das Team an visuellen Phänomenen und Erkenntnissen aus der frühen Bildstatistik, wie sie schon in den Schriften von Willard C. Brinton beschrieben sind oder auch an der ägyptischen Kunst. (40) Die ägyptische Kultur weist laut Neurath einige Ähnlichkeit zur aktuellen Gesellschaft auf, weil sie ebenso ein statistisches Zeitalter gewesen sei: »Die ägyptische Geschichte umfasst ein durchaus statistisches Zeitalter! Eine Grossnaturalwirtschaft wie die ägyptische bedurfte einer umfassenden Naturalrechnung, die zu einer systematischen Buchhaltung ausgebildet wurde! [...] der Schreiber [von statistischen Daten], war eine der wichtigsten Persönlichkeiten!« (41) Der Schreiber, die Hieroglyphenschrift oder vielmehr die figuralen Bänder faszinierten Neurath. Es ging aber zu Beginn der Wiener Methode noch nicht um die Findung einer universalen Bild- oder Zeichensprache ähnlich zur ägyptischen Schrift, sondern die bildhafte Vermittlung von Zahlen und alltäglichen Prozessen in einer Abfolge, als einem Buch ähnlich lesbaren Bild.

40 Beispielsweise in Brintons Buch Graphik Methods for presenting facts, 1914. – Vgl. die kurze Ausführung zur Entwicklung der Bildstatistik und den Zusammenhang mit der frühen Publikation Gesellschaft und Wirtschaft Neuraths von Sybilla Nikolow (oben Anmerkung 13), S. 21ff.

41 Statistische Hieroglyphen, (1926), in <3>, S. 40.

• Kurven, Kreise, Quadrate, Balken und Signaturen

Die Faszination für Friese oder Bildbänder hat unter anderem damit zu tun, dass der Mensch in unseren Breitengraden auf die Lektüre von links nach rechts trainiert ist und dass das menschliche Auge Längen oder Rechtecke am besten miteinander vergleichen kann. Neurath bricht daher bewusst aus pädagogischen wie auch visuellen Gründen mit der üblichen Verwendung von quadratischen Grundformen zur Darstellung von Mengen und deren Vergleich miteinander. (42) Das Quadrat ist wahrscheinlich in der Bildstatistik so verbreitet und akzeptiert, weil es auch in den üblichen Masssystemen für Räumlichkeiten benutzt wird. In einem eindrücklichen und bildhaften Vergleich in seiner Schrift Internationale Bildersprache aus dem Jahre 1936 zeigt Neurath auf, dass auch die anderen Formen wie der Kreis oder einheitliche Rechtecke ihre Nachteile und Vorteile haben und argumentiert für seine neue Methode der ›Gruppen von Figuren‹.

Bild aus <3>, S. 390; dasselbe auf englisch in ISOTYPE (1936) <2> (43)

Eine geometrische Grundform, die sich für die Mengendarstellung eignet, ist der Kreis. Anhand der Zentriwinkel zweier Sektoren lässt sich ihr Verhältnis zueinander sehr einfach ablesen. Die Kreisdarstellung hat jedoch den Nachteil, dass man die verschieden grossen Kreise nicht aus kongruenten Flächenelementen aufbauen kann. (44) Zusätzlich lassen sich die Summen nicht bildhaft addieren, d. h. es lassen sich keine geschlossenen Flächen bilden. Neurath kommt daher zum Schluss: »Am besten können Menschen Längen miteinander vergleichen!« Die grössere Menge wird in den Darstellungen des Gesellschafts– und Wirtschaftsmuseums fast ausschliesslich durch eine grössere Zahl von Zeichen gekennzeichnet, die in Form eines Streifens angeordnet sind! (45)

Mengen werden als unterschiedliche Länge oder Balken wiedergeben. Damit die Balken auch lebendig werden, quasi für sich selbst sprechen und sich durch Farbe als auch Symbol leicht voneinander unterscheiden lassen, werden sie mit der entsprechenden Anzahl Signaturen aufgefüllt. Man könnte die Balken auch bloss einfärben. Was spricht für die Verwendung von Signaturen? Neurath argumentiert in seinen theoretischen Schriften oft mit dem optischen Gedächtnis des Betrachters:

»Wenn ein Mensch, der ein optisch gerichtetes Gedächtnis hat, sich die Streifen wirklich in ihrer Länge und Anordnung merkt, so muss er sich unoptisch ›dazu‹ merken, was sie bedeuten! Denn nach einiger Zeit weiss er gar nicht mehr, dass rot die Männer, rosa die Frauen, dass blau die Textilindustrie und grün die Kinder sind! Wohl aber merkt er sich die Bedeutung der Balken, wenn sie nicht nur farbig sind, sondern auch noch figural sind! Eine rote Männerreihe symbolisiert eben viele Männer!« (46)

Die Menge wird also durch eine bestimmte Anzahl gleicher Signaturen zur leichteren Memorisierung und nicht durch ein grösseres und ein kleineres Symbol dargestellt, denn durch die Veranschaulichung einer grösseren Anzahl durch ein vergrössertes Zeichen kann sich der Rezipient keine Vorstellung von Zahlenverhältnissen machen; das Auge kann Volumina nicht miteinander vergleichen. Sehr schön ist dies ersichtlich, wenn man die beiden Herangehensweisen einander gegenüberstellt. Man kann bei der herkömmlichen Methode nur feststellen, dass im Jahr 1920 mehr Leute geheiratet haben als 1915. In welchem Verhältnis diese beiden Mengen zueinander stehen, kann das Auge jedoch nicht erkennen. Die herkömmliche Methode verschieden grosse Figuren ersetzen Neurath und sein Team mit mehreren kleinen Figuren.

Bilder aus »Internationale Bildersprache« (1936), <3>, S. 381 und 383.

In der Bildstatistik werden Balkendiagramme genutzt, deren einzelnen Balken sich farblich als auch figural voneinander unterscheiden können. Sobald die Balkendiagramme oder belebten Bänder aneinandergereiht werden, können die Enden sogar Kurven nachahmen. (47) Die streng voneinander getrennten Balken suggerieren aber keine durchgehende Kurvenbewegung oder kontinuierliche Übergänge, was auch nicht der Realität entspräche, sondern legen dem Betrachter Tendenzen nahe. (48)

Eine Bildstatistik nach der Methode Neuraths stellt also sinnfällig wesentliche Grössen und Grössenbezeichnungen dar. (49) Zum einfacheren Vergleich und Erkennen von Grössenverhältnissen wird auch auf die perspektivische Anordnung von Bildelementen verzichtet.

42 Er sieht im Quadrat den kleinsten pädagogischen Nutzen, obwohl es die wahrscheinlich am meisten benutzte Grundform ist. Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule (1933), in <3>, S. 278.

43 Die Abbildung enthielt beim untersten Bildpaar einen Fehler: »Number of women in 1 is ½ of number of women in 2.« Aber: In der Abbildung 1 entsprechen die Frauen 1/3 der Frauen in der Abbildung 2 und nicht wie geschrieben der Hälfte.

44 Bildstatistik nach Wiener Methode in der Schule (1933), S. 278.

45 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 45.

46 Statistische Hieroglyphen, S. 44.

47»Die konsequente Durchführung dieses Grundsatzes bedeutet, dass in volkstümlichen Darstellungen gesellschaftlicher Tatbestände die ›Kurve‹ verschwindet und einer Aufeinanderfolge von belebten Bändern Platz macht, deren Enden wie die Kurve verlaufen.« Statistische Hieroglyphen, S. 44.

48 Vgl. Statistische Hieroglyphen, S. 45.

49 Darstellungsmethoden des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums (1925), Abschnitt »Graphische Darstellungsmethoden für Statistik«, in <3>, S. 26f.

• Perspektive und Projektionen

In seiner Autobiographie erklärt Neurath, dass er als Kind in Zentralprojektionen keinen inhaltlichen und erklärenden Mehrwert sah, weil die wichtigen Dinge oft zu Gunsten der korrekten Ansicht in den Hintergrund verschwanden oder Dinge verborgen blieben.(50) Er bewunderte hingegen die Darstellungen in der Musurgia universalis (1650) von Athanasius Kircher, (51) weil sie verschiedene Projektionen vereinen und Schnittzeichnungen integrieren. Trotz der Begeisterung verzichtet Neurath in seiner Wiener Methode auf diese ›Misch‹-Perspektiven und Projektionen im allgemeinen. (52) Vorteile einer verzerrungs- und wertungslosen Darstellungsmethode sind, dass Grössen- oder Mengenverhältnisse auf einen Blick leicht lesbar, d.h. unterscheidbar sind, und dass nur das wichtigste oder alles im gleichen Ausmass im Zentrum steht.

50 In <5>, S. 48ff.

51 Neuraths visuelle Autobiographie enthält sehr viele Beispiele von Druckgrafiken, die ihn bei seiner Arbeit beeinflusst hatten. Er offenbart dem Leser in gewisser Weise seine Bilderwelt.

52 Allenfalls begegnet man bei den Sachbildern der Parallelprojektion.

• Anordnung – Mengen in Abhängigkeit

In der einfachen Bildstatistik (Abb. siehe oben) wurde die Entwicklung der Anzahl Eheschliessungen, also einer Datenmenge, untersucht. In den meisten Bildtafeln werden jedoch oft komplexere gesellschaftliche Veränderungen visualisiert. Es werden ›Geschichten erzählt‹, ›unsichtbare Entwicklungen nachgebildet‹ und Zusammenhänge aufgezeigt. (53) Soziale Prozesse, die sich gegenseitig beeinflussen oder miteinander in enger Beziehung stehen, werden dadurch auch in Abhängigkeit zueinander gebracht. Neurath macht in seinen bildstatischen Tafeln verborgene Relationen von gesellschaftlichen Prozessen sichtbar und er kann dadurch das Wissen des Betrachters positiv und nachhaltig erweitern. Ein für sich sprechendes Beispiel ist die Tafel zur Relation zwischen Einkommen und Säuglingssterblichkeit. Die Bildstatistik veranschaulicht: Je höher das Durchschnittseinkommen ist, desto tiefer sinkt die Sterberate von Säuglingen.

Bild aus <1>, Tafel 92.

53 In seiner visuellen Autobiographie unterstreicht Neurath, dass Bilder, welche Veränderungen, Prozesse und verschiedene Zustände darstellen, den vergleichenden Blick ermöglichen und somit interessant für den Betrachter seien. Geschichten mit zu vielen Details lehnt er hingegen ab, da sie leicht zu ergänzen seien und von der reinen Funktion nur ablenkten. From Hieroglyphics to Isotype (2010), an mehreren Stellen, besonders S. 48–60 anhand von Kircher, Harrington, Lavater u.a.

• Anordnung – Mengen, die sich ändern

Die Anordnung von Inhalten in Form von Signaturen auf den Bildtafeln ist ein zentrales Element der Visualisierung von Daten. In den beiden Tafeln zu »Säuglingssterblichkeit und Todesfälle« wird zusätzlich der Überschuss an Geburten oder Sterbenden angezeigt. Dafür wurde eine unübliche vertikale Ausrichtung der Balken vorgenommen. Sie widerspricht der üblichen Leseweise von links nach rechts, folgt jedoch der neurathschen Devise, dass Personen im allgemeinen nebeneinander, und Dinge, die für materielle oder abstrakte Begriffe stehen, übereinander angeordnet werden. (54)

54 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 46.Ø

In der ersten Tafel (Geburten und Sterbefälle in Wien, oben) brauchte es eine zweite Graphik, um das Geburtendefizit beispielsweise im Jahr 1918 klar hervorzuheben. In der zweiten (Säuglingssterblichkeit und Einkommen) hingegen, hat man alles integriert, indem die Balken nicht an der horizontalen Trennlinie in der Mitte ausgerichtet wurden, sondern an deren Enden. Dadurch werden die Überschüsse sowohl an Geburten als auch an Sterbefällen sogleich erkennbar.

Dass auch die Ausrichtung der Signaturen für die Statistik wichtig sein kann, ist in der nächsten Graphik über die »Wanderbewegung« ersichtlich. Mit einer vertikalen Trennlinie wird zwischen Ein– und Auswanderungsüberschuss getrennt. Je nach Laufrichtung der Figuren wandern sie ein oder aus, und ähnlich zur vorher besprochenen Graphik wird die Differenz ebenfalls ersichtlich.

Bild aus <1>, Tafel 74; (s/w in <3>, S.186).

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4.3. Sprechende Signaturen

Vor der Wiederholung von immer denselben Bildzeichen auf ein und derselben oder sogar allen Tafeln darf man nicht zurückschrecken. Es muss also eine gewisse Scheu vor der auf den ersten Blick langweilig und monoton erscheinenden Repetition überwunden werden. (55) Das Ziel war, dieselbe Signatur für denselben Gegenstand im ganzen Museum, ja auf allen Ausstellungen, zu verwenden, um informative und nicht nur ›unterhaltsame‹ Bildtafeln zu gestalten. (56) Bevor man die Signaturen jedoch repetitiv verwenden konnte, mussten sie in einem einheitlichen Stil entwickelt werden.

55 Schwarzweissgraphik (1926), in <3>, S. 51.

56 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 41f.

• Der Stil von Gerd Arntz

Neurath lernte den Künstler Gerd Arntz (1900–1988) im Frühjahr 1926, im selben Jahr als die Düsseldorfer Gesundheitsausstellung Gesolei stattfand, kennen. Die Klarheit, horizontale Ordnung von immer gleichen und vereinfachten Figuren oder Formen in den Holzschnitten des Graphikers interessierten Neurath, und zwei Jahre später holte er ihn nach Wien. (57) Laut Arntz soll Neurath ihn zu Beginn der gemeinsamen Tätigkeit gefragt haben: Können Sie auch andere dazu bringen, in ›Ihrer‹ Art zu entwerfen, ohne dass störende persönliche Nuancen im Gesamtbild auftreten? (58) Die standardisierten Signaturen tragen also quasi von Beginn weg nur die Handschrift von Gerd Arntz. Sie sind den künstlerischen Arbeiten der Kölner Progressiven verwandt. (59) Diese Künstlergruppe hatte sich unter anderem zum Ziel gesetzt, die sozialen Umstände der Zeit auf kreative und künstlerische Weise zu dokumentieren und zu reflektieren, was sie thematisch in die die Nähe von Neurath bringt, der über soziale Prozesse bildstatistisch aufklären wollte. Die konstruktive und einfache Bildsprache der sogenannten ›sozialen Graphik‹ schien ihm für die Bildstatistiken ebenfalls geeignet. Aus dem grösseren Umfeld dieser Künstlergruppe stiessen ein Jahr nach Gerd Arntz dann der niederländische Maler Peter Alma und der Prager Maler Augustin Tschinkel zu Neuraths Team, um in der ›Art von Arntz‹ Signaturen und Tafeln herzustellen. (60)

57 Vgl. G. Arntz Zeit unterm Messer <6>, S. 21ff.

58 Zeit unterm Messer, S. 24.

59 Die Künstlergruppe formierte sich Anfange der 1920er Jahre rund um die Maler Franz Wilhelm Seiwert, Heinrich Hoerle und den Fotografen August Sander. Ihr Konzept bestand in der Dokumentation der Menschen und der Sozialstrukturen ihrer Zeit.

60 Zeit unterm Messer, S. 24.

• Herstellung und Entwicklung der Signaturen

Für die Bildstatistik nach Wiener Methode stellten die Graphiker anfänglich mit der wortwörtlichen Scherenschnitt–Technik Signaturen her: Sie schnitten die gezeichneten schematisierten Figuren aus Papier aus. (61)

Die inhaltliche Seite der Arbeit war komplexer, denn für eine einfache und schnell lesbare Bildtafel mit statistischen Daten braucht es eine einheitliche Zeichensprache, die anstatt arbiträre Buchstaben wie im Medium Sprache eine schon für sich ›sprechende‹ Signatur benutzt. Am Beispiel der Kleiderknöpfe erklärt Neurath prototypisch das Umsetzen vom Platzhalter zur bedeutungsvollen Signatur: Man kann mit Knöpfen militärische Heerbewegungen nachahmen, die Knöpfe können aber in einem anderen Kontext auch für etwas anderes stehen. Sobald man für Knöpfe bzw. die Soldaten eines Heers ein eindeutiges Symbol gefunden hat, spricht es für sich und braucht keine zusätzlichen Erklärungen mehr. (62) Es handelt sich dabei um Signaturen, die möglichst wenig Konventionen bedürfen, also einen hohen Wiedererkennungswert aufweisen oder bekannte Bildkonventionen einbinden wie beispielweise die Notbehelfe Flaggen (63), Länderzeichen oder chemische Symbole.

Neurath strebte eine objektive und nicht wertende Bildsprache an. Zusammenfassend sind folgende Punkte typisch für die Signaturen der Wiener Methode: alles Malerische und Naturalistische ist unterbunden, es gibt daher nur einheitliche Farbflächen; die Signaturen sind auf ihre Umrisse reduziert oder basieren auf äusserst schematischen Zeichnungen; nur einfache Attribute werden zur Unterscheidung eingesetzt; die Signaturen müssen so gestaltet sein, dass sie auch angeschnitten oder geteilt noch verständlich bleiben. Man kommt von einer malerischen und realistischen Farbgebung ab, da das oberste Prinzip der Wiener Methode die Funktionalität und nicht die Ästhetik oder das Beweisen von künstlerischen Fähigkeiten ist. (69)

61 Neurath sieht die Herstellungstechnik als zentral für die repetitiven bildstatistischen Tafeln an: »Dass man mit einem Scherenschlag mehrere gleiche Figuren erzeugen kann, wird geradezu zu einem Hilfsmittel statistischer Darstellungen.« Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände (1927), in <3>, S. 121.

62 In <5>, S. 13–15.

63 Statistische Hieroglyphen (1926), in<3>, S. 43.

69 Vgl. From Hieroglyphics to Isotype 2010, S. 33.

• Bildbedeutung

Wie erreicht man aber eindeutige und klare Bildsymbole? Neurath greift in seiner Autobiographie auf seine Kindheitserfahrungen zurück. Er beschreibt, wie er Objekte aus Zeitschriften oder anderen Printprodukten ausgeschnitten, gesammelt und sortiert habe. Dabei machte er die Entdeckung, dass man isolierte Objektbilder mit exakten Begriffen von Typen verbinden kann, wenn sie schematisch und einfach gehalten sind. Die entwickelten Signaturen sind darum schematische Zeichnungen, d.h. sie sind befreit von allen unwesentlichen und nicht funktionalen Details wie Verzierungen, naturalistischer Farb- und Schattengebung, Innenraumlinien, unnötigen Perspektiven, Umgebung usw. und sind somit oft vereinfacht auf die Umrisslinien. Die Signaturen sollten auch ohne Text allgemein und einfach verständlich sein und erhalten durch ihre Anordnung auf der Tafel eine spezifische Bedeutung:

»Es geht zunächst darum, Abbildungen zu schaffen, die möglichst ohne Text verständlich sind. Länder sind Flächen, Menschen Figuren, die auf ihnen stehen, Einfuhr und Ausfuhr sind Warenmengen, welche mit Eisenbahnzügen in ein Land hereinkommen, aus einem Lande hinausgehen. […] Es müssen vor allem Bildzeichen geschaffen werden, die so ›gelesen‹ werden können wie von uns allen Buchstaben und von Kundigen Noten.« (64)

Beim Entwerfen stellte man fest, dass es für vergangene Dinge einfacher war, eine individuelle und unverkennbare Form zu finden. (65) Mit der Zeit hatten sich folglich eine Art Stereotyp eines ›Römers‹, ›Griechen‹ (dank deren Kleidung) oder bestimmte Attribute wie die Sichel für den Landwirt im menschlichen Gedächtnis festgesetzt, was den Graphikern entgegenkam.

Schwierigkeiten bereiteten aber aktuelle Themen wie zeitgenössische Arbeiter aus verschiedenen europäischen Ländern, denn an einfachen Erkennungsmerkmalen wie der Kleidung liessen sie sich nicht mehr unterscheiden. (66) Abhilfe für solche Probleme konnten beispielsweise unterschiedliche Farben schaffen, wobei die Figuren immer auf einheitlichen Farbflächen aufgebaut wurden. Unterschiedliche Ethnien konnten dadurch einfach, aber nur grob unterschieden werden: Gelb für Asiaten, Rot für indigene Völker usw. Trotz solcher verfänglicher und äusserst einfacher Unterteilungen musste Neurath auf sie zurückgreifen um eine objektive und allgemeinverständliche Bildsprache zu entwickeln, die aufklären und grosse Zusammenhänge zeigen will. Einen entscheidenden Aspekt bei der Eingrenzung oder klaren Bestimmung einer Symbolbedeutung nahmen auch die sogenannten ›Führungsbilder‹ ein.

64 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 40.

65 Statistische Hieroglyphen, S. 43.

66 Statistische Hieroglyphen, S. 42f.

• Führungsbilder

Unter »Führungsbild« verstand Neurath eine Graphik, die den Betrachter in das Thema einführt oder Bildtafeln in verschiedene Sektionen unterteilt. (67) Es handelt sich somit nicht um Prozesse oder Statistiken, sondern um relativ banale, aber trotzdem bildhafte Titel oder Einführungen in ein Thema. Generell zeichnet sie eine neutrale Farbe wie hellgrau oder ocker aus. Im folgenden Beispiel werden mit einfachen Mitteln ›Stadt‹ und ›Land‹ als auch diverse Erdteile voneinander unterschieden.

Bild aus: Auf dem Wege zum modernen Menschen (1939), in <3>, S. 502

In dieser Statistik ist die Wichtigkeit der Führungsbilder sehr gut ersichtlich, denn die Signaturen für die Anzahl Bewohner sind gleich gehalten und heben sich nicht etwa auf Grund der Hautfarbe oder ähnlichem voneinander ab. Zwischen Stadt- und Landbewohnern wird farblich mit rot und schwarz unterschieden. Jeweils im oberen Teil der sechs Rechtecke befinden sich die ebenfalls farblich gleich gehaltenen Führungsbilder. Mittels architektonischer Elemente und verschiedenen Baumarten werden sowohl geographische als auch urbane oder ländliche Gegenden voneinander unterschieden. Interessant ist, dass für die ländliche Kennzeichnung auch sakrale Gebäude verwendet wurden. Beim Feld ›Europa‹ ist rechts eine Kirche abgebildet, jedoch ohne sie einer bestimmten Glaubensrichtung zuzuordnen. Die sakralen Gebäude zeichnen einen Landstrich aus, sie helfen die Region zusätzlich mit der lokalen städtischen Architektur, dem heimischen Baum und dem üblichen Wohnhaus eindeutig zu machen.

67 »According to Neurath, in a guide-picture ›only as much is shown as is absolutely necessary tot he statement in hand.‹« Eric Kindel and Sue Walker, with additional commentary by Christopher Burke, Matthew Eve and Emma Minns (2010): »Isotpye revisited«; online: http://isotyperevisited.org/2010/09/isotype-revisited.html [13.08.14]

• Kombination von Text und Bild zur Bedeutungsgenerierung

Wie die Signaturen wurden auch der Text schon bald mit einem drucktechnischen Verfahren gedruckt, »so dass sie zum Schluss zusammen mit den Symbolen nach den Grundsätzen jener neuen Typographie montiert werden konnten, wie sie vor allem von Jan Tschichold in den zwanziger Jahren propagiert wurde«. (70) Es ist erstaunlich, dass trotz des Anspruchs, eine Bildsprache zu finden, noch Begleittexte gedruckt wurden. Geht es denn nicht ohne Text? Obwohl die Führungsbilder in der oben beschriebenen Graphik klar sind, kommt die Tafel trotzdem nicht ohne Text aus. Die zusammengefassten Erdteile werden sprachlich präzisiert. Man könnte daher argumentieren, dass die Bilder nie so genau vermitteln wie die Sprache.

Neurath hat nie behauptet, dass Bilder ganz ohne sprachliche Element auskommen sollen, und er differenziert, dass mittels genaueren textuellen Angaben nur unterstützt, aber nicht erklärt werden soll. Es ist etwas anderes, »ob der Text den Sinn der Tafel erläutern muss, oder ob er die bereits dem Sinn nach einigermassen begriffene Tafel nun analysiert und wissenschaftlich dem Beschauer deutet!« (71) Das Bild steht somit an erster Stelle und gibt dem Betrachter schon eine Idee des zu vermittelnden und dargestellten Gegenstands. An zweiter Stelle vertiefen und präzisieren die textuellen Ergänzungen die Bedeutung der Bildzeichen. Der beigegebene Text behandelt die Grundsätze der Darstellung. (72) Das Missverständnis, dass »die ikonische Aneignung der (sozialen) Welt in einen Gegensatz zu sprachlichen Aneignungsformen gebracht wurde«, (73) ist damit ausgeräumt.

70 Arntz, Zeit unterm Messer 1988, S. 24.

71 Statistische Hieroglyphen (1926) in <3>, S. 50.

72 Das Sachbild (1930), in <3>, S. 169.

73 Karl-Heinz Braun und Konstanze Wetzel. Sozialreportage. Einführung in eine Handlungs- und Forschungsmethode der Sozialen Arbeit, 2010, S. 226.

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4.4. Sprechende Farbe

Die Farbe unterstreicht, präzisiert oder differenziert die Bedeutung der Signatur. Sie kommt nur in Zusammenhang mit der Signatur vor. Die Farbe ist kein eigenständiger Bedeutungsträger, sondern wird den Umständen und Anforderungen angepasst. Trotzdem ist sie zentral, denn eine farbige Bildtafel kann beispielsweise nicht einfach in eine Schwarzweissgraphik umgesetzt werden. (74) Bei Illustrationen für Artikel, Zeitungen oder andere Printmedien musste zusätzlich die veränderte Publikationsgrösse berücksichtigt werden. Die Wiener Methode bietet also dem Gestalter Leitlinien; die Graphik bzw. Signaturen, deren Verteilung, Farbe usw. muss er aber immer dem Kontext anpassen.

Wie die Signatur basiert auch die stringente Farbgebung in gewisser Weise auf der Scherenschnitttechnik. Man weiss, dass ausgemalte Flächen durch ihre unfreiwillige »Fleckigkeit« immer auch einen zu vermeidenden Moment der Bewegtheit in die Darstellung bringen, weil sie den Betrachter ablenkt und der Konzentration der Aufmerksamkeit nicht günstig ist. (75) Die Signaturen wurden also aus farbigem Papier ausgeschnitten um exakte Darstellungen zu erhalten, die von vornherein – des Naturalismus entkleidet – sich dem Betrachter »als streng gemeinte Symbole aufdrängen«. (76)

74 Zu Beginn seiner Arbeit war Neurath noch davon überzeugt, dass man Farben problemlos in Grauwerte umwandeln kann. Farbschrift: »Man kann allmählich eine Farbschrift als Ergänzung einführen, wobei grundsätzlich jede Farbe durch einen Raster der Schwarzweisstechnik ersetzt werden kann.« Bildliche Darstellung sozialer Tatbestände, (1926), in <3> S. 60. Später distanzierte er sich von dieser Aussage, weil jede Graphik spezifisch für ihren Bestimmungsort konzipiert sein muss.

75 Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände (1927), in<3>, S. 120. An mehreren Stellen seiner Schriften findet man ähnliche Äusserungen wie: »Um die Farben möglichst rein wirken zu lassen, ist das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum durchweg vom ›Malen‹ abgegangen und stellt seine Bildertafeln in ›Scherenschnitten‹ her, wozu ja gerade in Wien durch Versuche der Kunstgewerbeschule Anregungen gegeben war.« Statistische Hieroglyphen (1926) in <3>, S. 47.

76 Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände , <3>, S. 120.

• Farbschrift

Ähnlich zur gesuchten Universalbildschrift versuchte Neurath auch eine Art Farbschrift zu etablieren. Als Inspiration dienten dafür abermals ägyptische Wandmalereien oder die logische und konstante Farbgebung der Kartographie und etablierte Farbsymboliken. In Anlehnung an erstgenannte wurden Männer grundsätzlich dunkler als Frauen wiedergegeben. (77) Aus der Kartographie wurden andere Konnotierungen übernommen: die Farbe grün wurde in Neuraths Arbeiten immer für Land, Landarbeiter, ländliche Umgebung usw., rot hingegen für Feuer, Industrie usw. verwendet. Natürlich konnte nicht in jedem Fall auf eine bestehende Tradition zurückgegriffen werden und man suchte neuen Lösungen:

»Die lebhaften Farben werden zur Kennzeichnung bestimmter Tatbestände verwendet, Grau deutete das ›Unbestimmte‹, zum Beispiel das ›Nichtorganisierte‹ im Gegensatz zum Organisierten an. Wo es möglich ist, wird an die überkommene Farbsymbolik angeknüpft, etwa Grün für die Landwirtschaft verwendet, Weiss für die Wasserkräfte (weisse Kohle), wie dies ja in der Kartographie oft erprobt wurde.« (78)

In seinen späteren Schriften empfindet Neurath die Farbe als ein wesentliches Element, da die Symbolumrisse auf ein Minimum beschränkt werden können und dieselbe Signatur für mehrere Dinge stehen konnte, wenn die Farbe zur Bedeutungsgenerierung beigezogen wurde. (79)

Ebenso kann der Hintergrund für eine Bedeutungsergänzung genutzt werden. Eingesetzt wurden Hintergrundfarben zur Verdeutlichung von Unterschieden ein und derselben Signatur. Wenn die Signatur des Arbeiters vor einem anderen farblichen Hintergrund auftritt, kann dies beispielsweise bedeuten, dass er keine Pensionsversicherung hat (Grau), oder dass er durch die staatliche Pensionskasse versichert ist (Orange) usw. (80) Ein und dieselbe Signatur kann also mit einer anderen Hintergrundfarbe nochmals genauer charakterisiert werden.

77 Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände, <3>, S. 120.

78 Statistische Hieroglyphen (926), in<3>, S. 47.

79 Vgl. Von Hieroglyphen zu Isotypen (postum 1946), Kapitel »Die Renaissance der Hieroglyphen«, in <3>, S. 643.

80 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 48.

• Abstufungen, Kombination

Bei der Farbwahl mussten einige Dinge berücksichtigt werden wie die Farbabstufungen oder die Farbkombination. Schon in Artikeln aus den frühen Jahren des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums findet man Zeugnisse für die Beschäftigung mit der optimalen Farbkombination. Ähnlich zur Bildsprache ging Neurath davon aus, dass auch mit Farben kommuniziert werden kann. Zu einer Tafel, die leider nicht abgebildet wurde, aber schematisch nachempfunden wird, stellt er grundsätzliche Überlegungen zur gleichzeitigen Verwendung mehrerer Farben an:

»Die Tafeln zeigen durch weisse Scheiben mit schwarzem Rand die Abnahme der Bewohner, durch rote Scheiben die Zunahme an Bewohnern, rote Scheiben mit schwarzem Rand kennzeichnen die unverändert gebliebene Bevölkerungszahl. […] Es ist besser, in dieser Weise abzustufen, als etwa weisse, schwarze und rote Scheiben zu verwenden, weil die Farbengruppen Weiss und Schwarz, beziehungsweise Schwarz und Rot keine Zusammengehörigkeit erkennen lassen. Die Farbensprache ist aber als Ergänzung der Zeichensprache von grosser Wichtigkeit.« (81)

Graphik der Verfasserin

Dieses simple Beispiel zeigt, dass eine bestimmte Kombination von Farben mehr aussagen kann, als reine Einzelfarben oder eben nur einzelne farbige Zeichen, weil diese im Falle von Ab- bzw. Zunahme nur mit Konventionen etwas aussagen würden. Mit der Farbwahl von Neurath lässt sich visuell erschliessen, dass die Kreise zusammenhängen müssen. Geschickt kann er aufzeigen, dass der voll ausgefüllte Kreis Wachstum darstellt, weil eben mehr Fläche mit derselben Farbe gefüllt ist; gleichzeitig auch die Abnahme, weil die Kombination von weiss und schwarz auf das Auge kleiner wirkt als rot mit schwarz. Die Farben können jedoch nicht beliebig miteinander kombiniert werden, weil gewisse miteinander konkurrenzieren oder die eine die andere dominiert. Obwohl sie möglichst eindrücklich angewendet werden sollen, können jedoch nicht nur grelle Farben gewählt werden, weil sie einander übertönen, es ist, als ob in einem Orchester alle Instrumente gleichzeitig fortissimo einsetzen. Ist eine Farbe zu grell, so übertönt sie alle anderen und lässt sie nicht zu Worte kommen. (82) Wie die Signatur soll auch die Farbe den Betrachter ansprechen ohne ihn vom Inhalt abzulenken. Neben der Bild- wird die Farbsprache ähnlich eingesetzt, sie beruht auf bekannten Mustern aus der Kartographie und versucht aber auch durch die genaue Beobachtung von visuellen Phänomenen neue Wege zu beschreiten.

81 Das Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum auf der internationalen Städtebauausstellung in Wien (1926), in<3>, S. 64.

82 Bildliche Darstellung gesellschaftlicher Tatbestände (1927), in<3>, S. 120.

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4.5. Sprechender Hintergrund

• Kartogramme

Bis jetzt wurden nur Bildstatistiken in Form von Balkendiagrammen erwähnt. Neurath und sein Team haben jedoch oft mit geographischen Karten gearbeitet und die entwickelten Signaturen auf ihnen angeordnet – also Kartogramme erstellt. (83) Der Unterschied zu einer geographischen Karte besteht darin, dass eine genaue Lokalisierung unmöglich und auch nicht erstrebenswert ist. Die Karten wurden charakteristisch verwendet und nur ein Mindestmass von geographischen Merkmalen für bestimmte Erdteile, Länder oder Städte wiedergegeben. Wichtig für Kartogramme ist jedoch, dass beispielsweise zur Veranschaulichung der relativen Dichte flächentreue Entwürfe mit geringster Winkelverzerrung angewendet werden. Im Unterschied zur Mercatorkarte, einer winkeltreuen Anwendung, wird bei der Wiener Methode bevorzugt mit der Eckertschen Planisphäre, einer flächentreuen Abbildung, gearbeitet. Um dem Betrachter zu zeigen, wie stark – Neurath selbst spricht von »grotesk« (86) – eine Mercatorprojektion verzerrt, wird sie am Vergleichsobjekt einer menschlichen Figur gezeigt. (87)

Bild: »Nach Dozent Dr. Karl Peucker [1859–1940]«, Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum in Wien, Bildstatistik <1> Tafel XVIII – http://isotyperevisited.org/2009/09/neurath-on-maps.html (University Reading) [13.07.2014] – Vgl. die Bemerkungen in <1>, S. 103.

Beispiel einer geographischen Verteilung, »Politische Rechte von Frauen«, in <3>, S. 545

Die Projektionen wurden den Anforderungen der Graphik angepasst oder danach ausgewählt. In der frühen Publikation Gesellschaft und Wirtschaft aus dem Jahr 1930 wird als Erklärung zu den Tafeln das Spektrum an verwendeten kartographischen Modellen bildhaft im Anhang angefügt und elementar erläutert.

83 Unter Kartogramm versteht man die statistische Darstellung auf Landkarten.

86 Das Sachbild (1930), in <3>, S. 161.

87 Eine Randbemerkung: Wegen der starken Verzerrung an den Rändern wurde die Mercator-Projektion als eurozentrisch diffamiert. — Tissotsche Indikatrix des Globus in perspektivischer Darstellung / Tissotsche Indikatrix der Mercator–Projektion http://de.wikipedia.org/wiki/Mercator–Projektion [29.05.2014]

• Geographische und historische Anordnung auf den Tafeln

Der geographische Ort spielte auch bei der Anordnung von Balkendiagrammen oder anderen Mengenbilder eine Rolle. Bei der Anordnung von Feldern, die stellvertretend für verschiedene Stadtbezirke, Städte, Länder oder Erdteile auf einer Bildtafel stehen, wurde meistens eine bestimmte Reihenfolge beachtet: von Norden nach Süden und Westen nach Osten. Die historische Leserichtung sollte von links nach rechts oder von oben nach unten sein und sie entspricht damit der allgemeinen Anordnung von Dingen auf den Bildtafeln. Neurath und sein Team versuchten nicht nur die Signaturen systematisch zu verwenden, auch die Anordnung derselben auf einer Tafel gleicht einer elementaren syntaktischen Regel.

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4.6. Bildsprache

In einem frühen Zeitungsartikel aus dem Jahre 1926 erwähnt Neurath schon das Potential der Wiener Methode: »Es werden Bausteine für eine internationale Symbolik gesammelt, die vielleicht einmal in vielfacher Richtung unabhängig von der Verschiedenheit der Landessprachen statistische Erkenntnisse verbreiten werden.« (89) Im Laufe der Zeit wurden alle entwickelten Signaturen in Ordnern abgelegt und geordnet – also quasi eine Bildenzyklopädie erstellt. Es bestand eine Art Vokabular an Grundfiguren, auf die immer wieder zurückgegriffen werden konnte. (90) Mit der Flucht aus Österreich 1934 und der Übersetzung von Anleitungen ins Englische hat sich der Anspruch an die Wiener Methode als eine internationale Symbolsprache verstärkt. Durchgesetzt hat sich aber langfristig ›nur‹ das Piktogramm, das aus öffentlichen Leitsystemen an Verkehrsknotenpunkten oder bei Fernsehübertragung nicht mehr wegzudenken ist. Die neurathschen Signaturen lebten folglich ohne ihren bildstatistischen Hintergrund weiter. Damit verloren sie mehr und mehr an didaktischem Wert, wie sich das Neurath für den musealen Kontext als Aufklärungsmedium ausgedacht hatte, und gewannen an deiktischem Wert.

89 Statistische Hieroglyphen (1926), in <3>, S. 49. Weiter weist Neurath auf den Vorteil der Objektivität hin: »Die Isotype-Tafeln können nicht nur in der ganzen Welt verstanden werden, sondern sind auch leichter annehmbar als gedruckte oder gesprochene Worte.« Von Hieroglyphen und Isotypen (Postum 1946), Kapitel Die Renaissance der Hieroglyphen, in <3>, S. 645.

90 Neurath vergleicht die Wiener Methode gerne mit der Sprache: »In dieser kurzen Zeit hat Isotype sich stabilisiert und ändert sich jetzt nur, wie eine Sprache das normalerweise tut, indem sie nämlich Vokabular, Grammatik und Stil ändert und anreichert.« Die Renaissance der Hieroglyphen, S. 642f.

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5. Ausblick auf das Zeitalter des Auges

Neuraths bildpädagogische und ästhetische Ansätze waren so systematisch und überraschend einfach ausgerichtet, dass sie nicht nur die Museumsgestaltung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts revolutionierten, sondern einen bleibenden und wegweisenden Charakter für die späteren Graphiker hatten. Neurath zählt daher zu den berühmten Visualisierern, der als oberstes Ziel die Vermittlung von Zusammenhängen, das Transparentmachen von Prozessen und die Reduktion von Bildsprache auf ihre funktionalsten und einfachsten Elemente hatte. Aus heutiger Sicht hat sich die Aussage Neuraths »Unser Zeitalter wird vielleicht einmal das Zeitalter des Auges genannt werden« (92) bestätigt, und er hat dazu mit seinem Team sehr viel beigetragen.

»Worte trennen, Bilder verbinden.« (93)

92 Das Sachbild (1930), in <3>, S. 154.

93 Die Renaissance der Hieroglyphen, in <3>, S. 645.

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Veröffentlicht 13.08.14 — R.St.

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