Tabellen in Geschichte und Disziplinen |
Geschichte und Anwendungsgebiete von TabellenIm Kapitel Visualisierungen mittels Tabellen wurden die logischen Grundlagen gelegt. Jetzt fragen wir: Seit wann und in welchen Sachgebieten hat man Wissen tabellarisch dargestellt? Die einzelnen Wissens-Disziplinen, in denen ein Bedarf nach Visualisierung von Mengen-Zuordnungen aufkam, sind sehr verschieden und entwickelten sich ganz unterschiedlich. Ebenso der Bildungsstand der Leserschaft, an die sich solches Wissen richtet. Schließlich gibt es ein Spektrum von tabellarischen Darstellungsarten, wobei zu berücksichtigen ist, dass sich das Bedürfnis je nach den darzustellenden Daten und historisch verschieden auffächert. Bei der historischen Betrachtung müssen wir uns mit einer unsystematischen Reihe von punktuellen Beispielen begnügen. Das Sammelsurium ist notdürftig alphabetisch geordnet. Eine eingehendere Diskussion muss den Spezialisten überlassen werden. Übersicht über die Disziplinen
• Übersicht über die historische Entwicklung • Manipulation • Literaturhinweise |
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AstronomieDie Astronomie war eine der ersten Wissenschaften, die mit Tabellen gearbeitet hat. In Ptolemaios’ (2. Jh. u.Z.) / Almagest gibt es viele Tabellen astronomischer und trigonometrischer Thematik. Schon die griechischen und arabischen Handschriften enthalten Tabellen.
Erwähnt seien ferner die ›alfonsinischen Tafeln‹ (Mitte des 13. Jhs.; ein Druck von 1524 hat gegen 300 Seiten mit Tabellen). Es ist dies Wissen von hochspezialisierten Gelehrten gewesen. Lat. Ausgaben von 1496 (Übersetzer?), 1515 (Drucker = Petrus Liechtenstein, Venedig), 1537 (übers. Georg von Trapezunt) und 1543. Moderne deutsche Übersetzung von Karl Manitius von 1912/13. Ausgabe a.d.J. 1524 digitalisiert > https://books.google.com.au/books?id=LRXcPAVx9UwC&hl=de Hier ein Beispiel mit einer als Koordinatensystem realisierten Tabelle aus einem Jugendbuch des 19. Jahrhunderts. Ordinate = (a) Breitengrad (positive Zahlen weisen nach Norden, negative nach Süden); Abszisse = (c) Tageslänge in Stunden. Je eine Linie pro (b) Datum. Gezeigt wird, (c) wie lange die Sonne an einem bestimmten (b) Datum an einem bestimmten Ort über dem Horizont steht. Man wählt am linken/rechten Rand (a) die geographische Breite des fraglichen Ortes, dann fährt man von dieser Stelle horizontal bis zu jener Kurve, die dem fraglichen (b) Monat entspricht. Dann ist an der oberen/unteren Skala die (c) Sonnenscheindauer abzulesen und gegebenenfalls noch zu interpolieren.
Beispiele: Bern liegt auf dem 47. Breitengrad. Am 1.Mai steht die Sonne hier 14 1/2 Stunden über dem Horizont. — Auf dem Aequator steht die Sonne während des ganzen Jahres 12 Stunden über dem Horizont. — In Tromsö (70. Breitengrad) steigt die Sonne am 1. Januar nicht über den Horizont und am 1. Juni geht sie die ganze Nacht nicht unter. Bei Kalenderdaten, die zwischen den angegebenen liegen, muss interpoliert werden. Man erkennt schnell, dass die Sonnenscheindauer übers Jahr umso mehr variiert, je weiter man vom Äquator entfernt ist.
Literaturhinweise: Christoph J. Scriba / Peter Schreiber, 5000 Jahre Geometrie: Geschichte, Kulturen, Menschen, (Reihe Vom Zählstein Zum Computer), 3. Auflage Springer 2010. http://www.univie.ac.at/hwastro/ Den Hinweis auf Ptolemaios verdanke ich Walter Burkert (1931–2015; Brief vom 18. April 2013). |
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Bibelkunde: KanontafelnEine frühe Notwendigkeit der Parallelisierung von Listen ergab sich durch das synoptische Problem: An welcher Stelle wird dieselbe Episode in einem andern Evangelium (Matthäus – Markus – Lukas – Johannes) erzählt? Solche Konkordanztabellen (Kanontafeln) gibt es seit Eusebios von Caesarea (ca. 263 – 339).
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BiologieDie Verwirrung der Nomenklatur von Tieren und Pflanzen war mit zunehmender Kenntnis von deren Vielfalt im 16. Jahrhundert groß geworden. Man wusste nicht mehr, welche (antiken und modernen) Bezeichnungen Synonyme voneinander waren oder wirklich andere Arten bezeichneten. Conrad Gessner (1516–1565) – zuerst Philologe, dann erst allmählich Naturwissenschaftler – hat immer die Bezeichnungen der Pflanzen und Tiere abgeklärt. Hier eine Seite aus seinem frühen Buch, in dem er Bezeichnungen derselben Pflanze lateinisch / griechisch / deutsch und französisch in einer Parallel-Tabelle nebeneinander stellt (man beachte die verschiedenen Schrifttypen und den Zeilenzähler):
Auch andere Forscher haben versucht, mittels Tabellen Zusammengehöriges zusammen-zu-ordnen. Das Werk von Ippolito Salviani (1514–1572), Aquatilium animalium historiae, liber primus, cum eorumdem formis, aere excusis, Rom 1554 enthält auf 50 Doppelblättern solche Tabellen. In den Spalten: die lateinische, griechische, volkssprachliche Bezeichnung; dann stichwortartig die Morphologie (attributa), dann das Vorkommen in den Büchern von Aristoteles, Plinius, Aelian und anderen. Die Zeilen sind geordnet nach dem Alphabet bezogen auf die lat. Bezeichnung:
Jan Swammerdam (1637–1680) beschreibt in seiner »Historia insectorum« (1685) aufgrund vielfältiger Beobachtungen die Metamorphose verschiedener Typen von ›blutlosen Tierchen‹ (Insekten nach damaliger Terminologie). Am Schluss fasst er diese Beobachtungen tabellarisch zusammen. Er unterscheidet vier Klassen von Insekten und vergleicht diese Reihe dann auch mit dem Frosch und einer Pflanze; diese stehen zwecks Vergleichbarkeit in den Spalten. Die Zeilen enthalten sechs Stufen der Metamorphose (vereinfacht gesagt: vom Ei über die Raupe, die Puppe zum adulten Tier). – Was diese Zusammenstellung an Erkenntnisgewinn bringt, mögen die Biologie-Historiker sagen. (Die Tabelle steht auf pag. 212; bei Google Books sinnvollerweise nicht ausgefaltet!). In der postumen deutschen Übersetzung sieht das so aus (Tab. + röm. Ziffer verweist auf die Abbildungen im Buch):
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EsoterikJohannes Regiomontanus (1436–1476) zeigt in seinem Canon/ was in jedem zeichen zuo thuon vnd vnderlassen sey. In den Spaltentiteln der Kreuz-Tabelle ist als Tierkreiszeichen der Zeitabschnitt angegeben, in dem man eine bestimmte Handlung auszuführen gedenkt (es ist nicht das Tierkreiszeichen, in dem der Benutzer geboren ist!); in den Zeilentiteln ist diese Handlung angegeben, z.B. wandern – kaufen/verkaufen; Eehalten dingen = Dienstboten anstellen; Hochzeit machen usw.; das entsprechende Feld prophezeit, ob diese Unternehmung gut / mittel / böß herauskommen wird.
Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) glaubt, dass die Geheimnisse Gottes und der Natur in den natürlichen Zahlen enthalten sind. Dazu listet er in »De occulta Philosophia« (verfasst 1510; Drucke ab 1533) ›Zahlenleitern‹ auf; von 1 bis 12 (ohne 11). Die Idee geht aus vom biblischen Satz omnia mensura et numero et pondere disposuisti / Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet (Sapientia / Buch der Weisheit 11,21). Das Höchste kann mit dem Niedrigsten mittels der Zahlen-Gemeinsamkeit in Zusammenhang gebracht werden. Hier ein Ausschnitt aus der Parallel-Tabelle zur Vierzahl (2. Buch, 7. Kapitel), wo die vier Buchstaben des Tetragramms (JHWH) zusammengestellt werden mit vier Engels-Hierarchien; den vier Evangelisten und ihren Attributen; den vier Elementen; den vier Qualitäten (warm, feucht, kalt, trocken); den vier Jahreszeiten; den vier Himmelsrichtungen; den vier Kardinaltugenden Gerechtigkeit, Mäßigkeit, Klugheit, Tapferkeit); den vier Körpersäften; und vielem anderen mehr.
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EthikAristoteles entwickelt in der »Eudemischen Ethik« (2. Buch, 3. Kapitel; 1220b / 1221a) den Gedanken, dass es bei allen Tätigkeiten, die ein Continuum bilden, ein Übermaß, Untermaß und Mittleres gibt; als Beispiel nennt er u.a. die Gymnastik. Bei allen ist das Mittlere das Beste; die Extreme sind schädlich. Für die Tugenden zeichnete er eine Tabelle, wofür er den Begriff (hypographê, Grundriss) verwendet. Es ist eine Kreuztabelle mit impliziter Randspalte (14 Verhaltensweisen: z.B. erzürnen, loben, behaupten) und Randzeile (drei Grade in einer vollständigen diskreten Skala); in den Feldern steht die Verhaltensweise / der Affekt. Interessant ist, dass das Mittlere nicht in der Mitte, sondern als das Richtige nach den beiden Möglichkeiten des Falschen rechts außen steht, also z.B.
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Ethnologie: VölkertafelAuf dieser Kreuz-Tabelle wurden einzelnen Ethnien Eigenschaften zugeschrieben. In den Spaltentiteln stehen nicht nur die Namen, sondern auch jeweils eine karikierende Gestalt.
Literaturhinweis: Franz K. Stanzel: Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1999. |
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FahrpläneFahrplan – engl. schedule, von lat. schedula = ein Zettelchen von Papyrus; nach OED: »the specific meaning ›printed timetable‹ is first recorded 1863 in railway use«. Parallel-Tabelle. Für jeden Kurs eine Spalte; in den Zeilen für jede Haltestelle die Abfahrts- und Ankunftszeiten; in der Randspalte für den Passagier die Haltestellen, geordnet nach dem Streckenablauf.
Für das Eisenbahnpersonal ist der Fahrplan tabellarisch leicht anders angelegt. Die Orts- und Zeit-Angaben sind maßstäblich skaliert eingetragen. (Die Darstellungstechnik soll zurückgehen auf Etienne-Jules Marey, »La méthode graphique …«, 1878.)
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GeographieAb den 1780er Jahren begann das Interesse an der Erklimmung von Bergen. Die Jungfrau wurde (nach Bertuch, s.unten) im Jahr 1802 zum ersten Male von Rudolph und Hieronymus Meyer aus Aarau unter grossen Gefahren bestiegen. Entsprechend erwacht das Interesse an einer Darstellung der Bergeshöhen. Christian von Mechel (1737–1817) zeichnet 1804 eine Vergleichende Graphik der Berghöhen, in der er die Berge stilisiert nach Größe geordnet nebeneinander stellt. Digitalisat [www commons wikimedia; leider ohne die Bildlegende] Eine andere Umsetzung von Zahlenangaben findet sich 1831. Hier werden die Maßangaben der Berghöhen (die August Heinrich Christian Gelpke, Allgemeine Darstellung der Oberflächen der Weltkörper unseres Sonnengebietes, Leipzig 1811 entnommen sind) ganz schlicht typographisch in Längen umgesetzt, was ja naheliegt. So ergibt sich eine Art Säulengraphik.
Goethe und Alexander von Humboldt und andere haben Kompositbilder angefertigt, auf denen die mimetisch wiedergegebenen Berge zusammen erscheinen, so dass die Höhendifferenz gut erkennbar ist.
Die Geschichte dieser Visualisierung ist vorzüglich dargestellt worden von Margrit Wyder, Höhen der alten und neuen Welt – Goethes Beitrag zum Genre der vergleichenden Höhendarstellung; in: Cartographia Helvetica 39 / 2009; S.11–26. > http://dx.doi.org/10.5169/seals-98993 Margrit Wyder: Vom Brocken zum Himalaja. Goethes „Höhen der alten und neuen Welt“ und ihre Wirkungen. In: Goethe-Jahrbuch 121 (2004), S. 141–164. |
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Geschichte: Gleichzeitige historische EreignisseIn historischen Werken werden die Ereignisse / Herrscherdaten usw. in verschiedenen Reichen synoptisch aufgelistet. Der Kirchenvater Eusebius († 339 oder 340) bietet in seinem »Chronicon« in Tabellenform einen historischen Überblick von der Schöpfung bis 325. Das Merton College in Oxford besitzt ein Manuskript aus dem 9. Jahrhundert > http://image.ox.ac.uk/show?collection=merton&manuscript=ms315 Weitere alte und neue Beispiele: Christoph Helwig, Theatrum historicum, 1618 Digitalisat [www BSB] Marpurgum 1639; Digitalisat [www BSB]. Werner Stein, Kleiner Kulturfahrplan. Die wichtigsten Daten der Kulturgeschichte, Berlin-Grunewald: Herbig 1946. Arno Peters / Anneliese Peters, Synchronoptische Weltgeschichte, Frankfurt am Main: Universum 1952. Ein einfacheres Beispiel ist der Vergleich der parallelen Jahreszahlen: Von Erschaffung der Welt an (Anni Mundi) – Jahre vor oder nach Christi Geburt (ante / post C.N.) – Jahr nach Anfang der Olympischen Spiele (Anni Olymp.) – Jahre vor / nach Gründung der Stadt Rom (Anni ante V.C. / Anni V.C. [= Epocha Vrbis s. Romæ conditæ]) – das astronomische julianische Datum (Anni Periodi Jul.) – man könnte noch das Jahr der Indiktion und den islamischen Kalender (nach der Hedschra dazunehmen).
Literaturhinweise: Arndt Brendecke, Tabellenwerke in der Praxis der frühneuzeitlichen Geschichtsvermittlung. In: Theo Stammen u. Wolfgang E. J.Weber (Hgg.): Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (=Colloquia Augustana, 18). Berlin 2004, S. 157–189. Daniel Rosenberg / Anthony Grafton, Cartographies of Time: A History of the Timeline, Princeton Architectural Press 2010. |
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Grammatik: Paradigmata
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InformatikAuf durchlochten Papierstreifen wird der Text definiert, der dann in die Setzmaschine eingegeben wird. Es handelt sich um eine Paralleltabelle. (Wie der Informationsfluss vom Sender zum Empfänger technisch vonstattengeht, interessiert in unserem Zusammenhang nicht.)
Geschichte: 1870 entwarf Maurice-Émile Baudot einen solchen Code zur Verbesserung der Telegraphie > https://de.wikipedia.org/wiki/Baudot-Code Das Prinzip wird sodann (in anderer Codierung) verwendet beim Schnelltelegraphen von Siemens und Halske, vgl. dazu: Lexikon der gesamten Technik Herausgegeben von Otto Lueger, 2. Auflage 1904–1920, 8. Band S. 450ff. (Bild > http://www.zeno.org/Lueger-1904/I/TL091257) Weitere Literatur zum Thema: Eugen Nesper, Radio-Schnelltelegraphie, Berlin: Springer 1922. > https://archive.org/stream/bub_gb_emVAAQAAIAAJ F. Banneitz (Hg.) Taschenbuch der drahtlosen Telegraphie und Telephonie. Bd. I. Berlin / Heidelberg: Springer 1927. > https://books.google.ch/books?id=nNaRBwAAQBAJ |
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KalenderParallel-Tabellen findet man seit eh und je in Kalendern, wo aufgelistet werden: der Wochentag – das Datum (evtl. unterschieden nach dem julianischen / gregorianischen Kalender) – der Gedächtnistag des Heiligen (nach katholischem/reformiertem Brauch) – die Sonnenscheindauer – das Tierkreiszeichen, in dem der Mond steht – die Mondphase – und es lassen sich weitere Spalten denken wie z.B. die Feiertage anderer Religionen usw.
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Kameralwissenschaft: Bevölkerungsstatistik, DemographieIn der Kameralwissenschaft (Wissenschaft von der staatlichen Verwaltung und Volkswirtschaftspolitik) gibt es schon früh Tabellen, welche korrelieren: Quartier der Stadt – Feuerstellen – Einwohner männlich/weiblich – Geburten – Sterbefälle usw. John Graunt (London, 1620–1674) gilt als ein wichtiger Wegbereiter der modernen Statistik (Demographie). Er berechnete im Jahre 1662 die erste Sterbetafel. Hier als Beispiel Todesfälle und Taufen in einzelnen Gemeinden von London im Lauf der Jahre. Die Sterbefälle infolge der Pest sind separat aufgeführt, und so erkennt man sofort am Peak die Pestepidemie in London vom Jahr 1625.
Die kognitive Leistung einer Tabelle erhellt, wenn man damit die nicht-tabellarische Darstellung vergleicht, die der Popularisator Eberhard Werner Happel (1647–1690) wenige Jahre später seinen Lesern darbietet. Er erwähnt, dass die ansteckende gifftigen Kranckheiten/ welche in Engelland eine Zeitlang graßiret, Anlass gegeben haben, sogenannte Sterb- und Leichenzettel zu verfertigen. Mons. Johann Gravet [wohl Druckfehler für Graunt] hat über diese Sterb-Zettel unterschiedene curieuse Anmerckungen gemacht; die Happel referiert. Obwohl er durchaus tabellarische Darstellungen kennt, bringt er die Daten in narrativer Form; vielleicht, damit man sie in geselligem Kreis vorlesen kann:
Handelt es sich bei einer der Größen um die geographische Verteilung, so bieten sich Choropleth-Karten an. Die Gebiete auf einer Landkarte (das ist hier das mimetische Element) werden im Verhältnis zur statistischen Verteilung des thematischen Objektes graphisch ausgezeichnet, d.h. verschieden intensiv schraffiert oder eingefärbt oder mit Pictogrammen versehen. Als Beispiel dient der Geburtenüberschuss in Frankreich nach Departementen:
Eine andere Technik ist die Verzerrung der betreffenden Gebiete entsprechend einer gemessenen Größe (anamorphotische Karte). Der Benutzer muss, um die Maße abschätzen zu können, eine ›Normalkarte‹ als Vergleich dazu bekommen oder im Kopf haben. Die älteste (von uns bis jetzt gefundene) Karte ist: Lionel George Curtis, Diagram to illustrate contrast between British and Chinese Empires (1916) > https://digital.library.cornell.edu/catalog/ss:3293861 Bildlegende zu den Karten von E.Raisz (1893–1934): Oben die auf Rechteckform umgezeichnete Karte mit der Ansicht der flächenmäßigen Größen der U.S.A. (nach Steuerdistrikten); unten: Rectangular statistical cartogram with rectangles proportionate to the national wealth (hier allerdings nach Bundesstaaten gegliedert). Man erkennt sofort den Reichtum von N.Y. im Vergleich zu den Südstaaten. Beachte, wo die Rocky Mountains und der Mississippi eingezeichnet sind (Schlangenlinien)!
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Linguistik: Mehrsprachige WörterlistenJohann Amos Comenius (1592–1670) hat 1631 ein onomasiologisches Wörterbuch zusammengestellt, die »Janua linguarum reserata« (Geöffnete Sprachentür), das bald in mehrsprachigen Ausgaben erschien. Die entsprechenden Phrasen der einzelnen Sprachen sind im Sinne einer Parallel-Tabelle geordnet. Im Beispiel stehen die Pendants nicht exakt nebeneinander auf einer Zeile, sie sind dafür durchnumeriert. Für jede Sprache (entsprechend der Tabellen-Spalte) steht eine Schrifttype: lateinisch – Antiqua; deutsch – Fraktur; französisch – Kursive.
Zweites Beispiel: Die tausendseitige Emblem-Enzyklopädie des Fillippo Picinelli (1604 bis etwa 1679) ist mit einem mehrsprachigen Inhaltsverzeichnis versehen: Ordo seu Dispositio Mundi Symbolici divisa in sex Linguas. Leitsprache (deshalb in der linken Spalte der Parallel-Tabelle) ist das Lateinische, dann folgen: deutsch, italienisch, französisch, spanisch, belgice = niederländisch.
Athanasius Kircher hat weniger ein zoologisches Interesse, vielleicht nicht einmal ein semantisches; er möchte enzyklopädische Gelehrsamkeit ausbreiten:
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Liturgik: Fest-OkkurenzenDurch die Überlagerung des römischen Kalenders (der den Weihnachtsfestkreis, die Heiligenfeste und die ›normale‹ Woche bestimmt) und des jüdischen Mondkalenders (der den Osterfestkreis von der Fastenzeit bis vor die Adventszeit bestimmt) gibt es sog. ›Okkurrenzen‹, das heißt: es kann ein Fest des röm. Kalenders mit einem des Mondjahrs zusammenfallen. (Beispiel: wenn das Fest des hl. Justinus am 14. April auf Ostermontag fällt.) Es entstand die Frage, welches der beiden Feste bei einem Zusammenfall zu feiern bzw. zu transferieren sei bzw. welches ausfällt. Eine Tabelle enthält in den Zeilen / Spalten die verschiedenen Festtypen und in den Feldern die Angabe, was zu feiern sei. Die Ziffern in den Zellen werden im Begleittext erklärt:
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Mathematik: Winkelfunktionen, LogarithmenIn den 60er Jahren des 15. Jahrhunderts hat Regiomontanus (der auf der Basis einer griechischen Handschrift eine »Epytoma in almagestum Ptolomei« verfasste) astronomische Tabellen verfertigt und – so sagen die Mathematikhistoriker – die Trigonometrie begründet. Jost Bürgi (1552–1632) hat eine Sinustafel und eine Logarithmentafel geschaffen: Aritmetische und Geometrische Progress Tabulen/ sambt gründlichem unterricht/ wie solche nützlich in allerley Rechnungen zugebrauchen/ und verstanden werden sol. Gedruckt/ In der Alten Stadt Prag/ bey Paul Sessen/ der Löblichen Universitet Buchdruckern/ Im Jahr/ 1620. Hier eine Tabelle mit Winkelfunktionen. In der Randspalte links steht das Maß des Winkels (in Bogenminuten), in den Zeilen stehen die Werte für Sinus, Tangens und Sekans (Kehrwert des Kosinus). d.h zahlenmäßige Verhältnisse bestimmter Seitenlängen im rechtwinkligen Dreieck.
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MedizinIbn Butlân (gest. um 1064 u. Z.) hatte die Idee, in seinem »Taqwîm as-sihha« Krankheitsbilder und einen ärztlichen Kategorienkatalog (Ätiologie / Symptomatik / Therapie) in einer Tabelle aufzuspannen. Taqwîm – in die lateinische Übersetzung als Tacuinum übernommen – bedeutet ›tabellarische Übersicht‹, as-sihha ›der Gesundheit‹; die frühneuhochdeutsche Übersetzung des lat. Tacuinum sanitatis ist betitelt »Schachtafeln der Gesundheit«. Bei den schachbrettartigen Tafeln handelt es sich um eine Art Synopsis der Hygiene und Makrobiotik in Tabellenform, wobei auf Grundlage der antiken Säftelehre 280 Medikamente, Lebensmittel, Tiere, Winde, Arten des Wassers, Jahreszeiten und andere Umweltfaktoren nach ihren Auswirkungen auf die vier Menschentypen geordnet und ihre positiven und negativen Einflüsse beschrieben werden.
In der medizinischen Diagnostik wurden gelegentlich Relationen von äußerlich wahrnehmbaren körperlichen Symptomen und nicht offensichtlichen krankheitsverursachenden Organen behauptet. Wenn mehrere äußere Kennzeichen mit mehreren inneren Organen korrespondieren, kann man eine Paralleltabelle aufschreiben oder besser, ein mimetisches Abbild der sichtbaren Region mit den einschlägigen Kennzeichen zeichnen und dort mit Beschriftungen angeben, worauf diese verweisen. (Dies hat beispielsweise Franz Joseph Gall mit seiner Schädellehre gemacht.) Ein Beispiel ist die Iristopographietafel. Jedem Organ des Körpers entspricht ein bestimmtes Feld in der Regenbogenhaut (Iris) des Auges. An Farbveränderungen, Flecken, Verformung der Pupille und ähnlichen Zeichen bestimmter Abschnitte ist eine vergangene oder gegenwärtige Krankheit des Organs erkennbar. Die Visualisierungstechnik hat die Logik einer Choroplethkarte: Auf einem topographischen Bild werden zugeordnete Daten einer zweiten Menge eingeschrieben / eingezeichnet.
Wenn die Zellen-Einträge als Bilder realisiert werden, sieht es so aus:
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Metrologie: Umrechnung von Maßen, Gewichten, WährungenMan muss sich vorstellen, wie viele Maß- und Münzeinheiten es früher gab. (Der Meter setzte sich erst seit 1875 durch! In der Schweiz brachte erst das Gesetz über Maß und Gewicht von 1877 eine Vereinheitlichung.) Die russischen / welschen / ungarischen usw. Meilen, Faden, Schuh, Ellen wollten ineinander umgerechnet werden genau so wie die Gulden, Thaler, Kopeken, Francs, Schillinge, Groschen, Pfennige, Batzen u.dgl. jeder einzelnen Herrschaft.
Beispiel: Vergleichung der vier vornehmsten heut zu Tage gebräuchlichen Thermometer nach Deslisle / Fahrenheit / Réaumur / Celsius
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Musik: NotenschriftIst nicht auch unsere Notenschrift eine Tabelle? Die Taktstriche grenzen die Spalten ab; die Notenlinien bilden die Zeilen; die Noten mit den Längenangaben stehen in den Zellen.
Athanasius Kircher (1602–1680) hat einen Musikautomaten beschrieben und so gezeichnet:
Bei der Walze handelt sich um eine Binärtabelle mit impliziter Randspalte (für den Zeitpunkt) und Randzeile (für den Ton); die in den Kreuzungspunkten stehenden oder fehlenden Bolzen bedeuten (und bewirken), dass zu einem bestimmten Zeitpunkt ein bestimmter Ton gespielt wird bzw. nicht. Kircher zeigt die Mechanik auch abgerollt (cylindrus in planum projectus), das sieht aus wie ein Lochstreifen; die Firma Welte-Mignon lässt grüßen: |
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Physik: Messdaten-ReihenIn den Naturwissenschaften werden, seit dort Zählen, Messen, Wägen eine Rolle spielen, Tabellen verwendet. Hier eine Seite zu Tabula continens altitudines et sublim[itates] von Galileo Galilei (1564–1642):
Das Verfolgen von tabellarischen Darstellungen aus der Geschichte der Physik würde zu weit führen. Ein einziges Beispiel muss genügen. Der an Höhenmessungen interessierte Johann Jacob Scheuchzer (1672–1733) stellt die Höhe der Quecksilbersäule im Barometer (in der 1. Spalte: Fall des Quecksilbers, gemessen in Zoll und Linien) der Höhe des Orts über Meer gegenüber (die Maßangaben in o, /, //, /// = Toisen, Schuh, Zoll, Linien); dabei vergleicht er die Messungen von E. Mariotte († 1684), Jacques Cassini (1677–1756) und in der Spalte nach J.S. die seines Bruders Johannes Scheuchzer (1684–1738):
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PhysiognomikDie Tabelle der menschlichen Mimik (Paralleltabelle) ordnet jeder Emotion ein Set von Ausdruckselementen verschiedener Teile des Leibes zu:
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SteganographieSteganographie beruht darauf, dass der geheim übermittelte Text für nicht Eingeweihte nicht als verschlüsselt erkenntlich ist. – Johannes Trithemius (1462–1516) stellt folgendes Verfahren vor: Jeder Buchstabe des geheim zu übermittelnden Texts wird durch ein Wort ersetzt. Diese Wörter sind so gestaltet, dass sie nacheinander einen unauffälligen Text ergeben: Der erste Buchstabe wird durch ein Substantiv im Nominativ ersetzt; für jeden der 24 Buchstaben wird zwischen den Kommunikationspartnern ein Wort abgemacht; Für jede Ersetzung von 24 Buchstaben durch 24 Wörter enthält das Buch eine Tabelle; diese Tabellen stehen im Buch nacheinander: Quelle: Polygraphiae Libri Sex, Ioannis Trithemii Abbatis Peapolitani, quondam Spanheimensis, ad Maximilianum Caesarem, Accessit clavis Polygraphiae liber unus, eodem authore, continetur autem his libris ratio, Francofurti, 1550 > http://daten.digitale-sammlungen.de/bsb00026190/image_5 Der Satz Salvator sapientissimus conseruans angelica deferat nobis charitas potentissimi creatoris ist eine Chiffrierung des Wortes Wikipedia > https://de.wikipedia.org/wiki/Steganographie#Linguistische_Steganographie |
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StundenpläneStundenpläne werden wichtig, seit Schulen hinsichtlich der Leistungsklassen und Fächer differenzierter werden und so einen gewissen Organisationsgrad benötigen.
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GeschichteDie Geschichte zeigt, dass viele Darstellungen, die heute in den Visualisierungs-Departments von Magazinen zelebriert werden, längst erfunden waren. Verfolgt man Konversationslexika (im deutschen Sprachraum) im Laufe des 19. Jahrhunderts, so erkennt man: In Otto Spamer’s Illustrirtem Konversations-Lexikon für das Volk. Zugleich ein Orbis pictus für die Jugend, Leipzig 1870–1880 [8 Bände] gibt es nur typographische Tabellen. In spezifischerer populärer Fachliteratur tauchen in jener Zeit erste geometrische Visualisierungen auf, so etwa in: F(ranz) Reuleaux, Das Buch der Erfindungen, Gewerbe und Industrien. Rundschau auf allen Gebieten der gewerblichen Arbeit, Leipzig / Berlin, Otto Spamer, 1884–1888. (Beispiel: Preisschwankungen der Webstoffe während des Kriegsjahres 1870, Band 6, 1887, S. 409). Balken- und Kuchengraphiken trifft man in der 6. Auflage von Meyers Großem Konversations-Lexikon 1902–08 in größerer Zahl an; daneben gibt es dort aber noch sehr viel typographisch erstellte Tabellen. »Graphic presentation of statistics« boomte Ende des 19. Jahrhunderts. Einerseits weil das Interesse an Demoskopie wuchs, anderseits, weil bessere Drucktechniken zur Verfügung standen (Holzstich, Lithographie, Chromolithographie). 1909/10 schreibt Meyers Lexikon:
Der Artikel ist recht ausführlich und enthält Bildbeigaben wie die folgenden:
22. Band, Jahressupplement 1909/10; Artikel »Statistische Darstellung«, S.832f. (vereinfacht)
Hervorragende Visualisierer von Daten-Relationen mittels geometrisch und mimetisch umgesetzter Tabellen waren: William Playfair (1759–1823)
Charles Joseph Minard (1781–1870): Er zeichnete 1869 die Karte des Russlandfeldzugs (Carte figurative des pertes successives en hommes de l’armée française dans la campagne de Russie):
Etienne-Jules Marey (1830-1904)
Pierre Émile Levasseur (1828–1911)
Michael G. Mulhall (1836–1900)
Luigi Perozzo (1856 – 1916) > https://it.wikipedia.org/wiki/Luigi_Perozzo
Otto Neurath (1882–1945)
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Manipulation mittels visualisierter StatistikenOhne die Daten zu fälschen, kann man Balkengraphiken so darstellen, dass sie den Betrachter irreführen. Man braucht dazu nur den Ausschnitt geschickt zu wählen, indem man den Nullpunkt nicht zeigt, wodurch die Differenz der Balken größer erscheint. Martin Liebig hat in seinem guten Buch ein schönes Beispiel ausgegraben. Auf den ersten Blick glaubt man zu erkennen, dass das neue Regime bis 1937 die Arbeitslosenzahl auf Null gebracht habe. Effektiv gab es (nach dem Statistischen Jahrbuch des Deutschen Reichs, 1939/40) 1937 noch 912’000 Arbeitslose; aber die Graphik zeigt dies nicht, weil der Nullpunkt unterhalb der gezeigten Graphik liegt. – (Quelle: Martin Liebig, Die Infografik, Konstanz: UVK-Medien, 1999, Reihe praktischer Journalismus 39). Ein Vergleich mit der offiziellen Graphik im Statistischen Jahrbuch für das Deutsche Reich (1939) unter dem Titel Deutsche Wirtschaftskurven 1933 bis 1938 zeigt, dass die waagrechten Linien von oberhalb den Jahreszahlen bis unterhalb der Leiste mit den Fabrikabbildungen die Anzahl Arbeitsloser in Millionen angeben (0-7), die Nulllinie also vorhanden ist; die Manipulation besteht darin, dass für 1936 die Kurve weiter nach unten gezogen wird, so dass für den folgenden Zeitraum (bis in die zweite Jahreshälfte von 1937) bei beibehaltenem Kurvenverlauf die Arbeitslosenzahl um etwa eine halbe Million geringer erscheint.
Es gäbe auch zeitgenössische Beispiele. Der Übergang von einprägsamer Didaktisierung zu Irreführung ist schleichend. Ein Anliegen unseres Projekts ist Aufklärungsarbeit. |
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LiteraturhinweiseMilestones [www <22.5.12>] in the History of Thematic Cartography, Statistical Graphics, and Data Visualization. An illustrated chronology of innovations by Michael Friendly and Daniel J. Denis. William C. Brinton, Graphic Methods for presenting facts, NY 1914 > https://archive.org/details/graphicmethodsfo00brinrich ders., Graphic Presentation. New York City: Brinton Associates 1939 > http://archive.org/stream/graphicpresentat00brinrich#page/2/mode/2up Benjamin Steiner, Die Ordnung der Geschichte. Historische Tabellenwerke in der Frühen Neuzeit. Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008. |
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online gestellt im März 2016; Update Februar 2019 PM |
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